Neuroprothesen gehören heute zu den technisch spannendsten und hilfreichsten Systemen in der Medizin. Dabei werden technische Systeme an Nerven angekoppelt, um beispielsweise Organe oder Gliedmaße zu stimulieren. Eine Studie der VDE-Initiative MikroMedizin belegt nun, dass insbesondere in Deutschland dieser Forschungszweig großes Zukunftspotenzial hat.
Wenn körpereigene Schaltstellen – etwa durch Krankheit oder Unfall – nicht mehr funktionieren, können miniaturisierte elektronische Implantate Nervenstrukturen oder deren Funktionen modulieren, überbrücken oder auch ersetzen. Die eingebaute Messtechnik erfasst dabei körpereigene und verwandelt sie in elektronische Signale, die Muskeln oder Nervenzentren stimulieren oder technische Systeme wie zum Beispiel eine „künstliche Hand“ steuern. Sogar Rückkopplungen sind möglich: Sensoren einer Handprothese können die Temperatur des ergriffenen Gegenstands an einen im Unterarm implantierten Mikroprozessor melden, so dass in den entsprechenden Hirnarealen das Gefühl von Hitze ankommt („Feedback“).
Laut VDE-Studie werden unter anderem fortschreitende Miniaturisierung und höhere Systemzuverlässigkeit durch integrierte Selbstfunktionstests die Zukunft bestimmen sowie – mit Hilfe der drahtlosen Datenübertragung – eine einfachere Verbindung zu Komponenten außerhalb des Körpers. Die Telemetrie spielt für die gesamte Neuroprothetik ein wichtige Rolle. Anstelle von durch die Haut geführten Kabeln geht die Entwicklung zu hochfrequenten elektromagnetischen Sendern zur Datenfernübertragung mit Reichweiten von einigen Metern. Durch die Einspeisung in vorhandene IT- und Kommunikationsnetze können Daten aus dem Körper auch über weite Strecken an eine Monitoring-Zentrale gesendet werde.
Prothesensteuerung durch „Gedankenkraft“
Mittelfristig soll es zum Beispiel Patienten mit amyotropher Lateralsklerose (ALS), in deren Endstadium der Betroffene vollständig gelähmt ist, oder Patienten mit Lähmungen der Arme oder Beine möglich sein, „durch Gedanken“ Roboterarme oder Elektrorollstühle zu steuern. Erforscht werden dabei unter anderem „Human-Computer-Interfaces“ (HCI), Schnittstellen zwischen dem Zentralnervensystem und Aktuatoren, also zum Beispiel Computer oder Extremitätenprothesen.
Eine der erfolgreichsten Entwicklungen auf diesem Gebiet ist das EU-Projekt „SUAW“ (Stand-Up- And-Walk). Schon jetzt lässt sich mit Biopotenzialen, die bei beabsichtigten Bewegung per EEG (Elektroenzephalogramm) abgeleitet werden, gezielt ein Cursor auf einem Computerbildschirm bewegen. „Die Nutzung dieser Signale für die Ansteuerung von Bewegungsprothesen erscheint möglich“, heißt es in der Studie.
Elektroimpulse gegen Parkinson und für bessere Beweglichkeit
Bei der tiefen Hirnstimulation geben implantierte Stimulatoren elektrische Impulse ab, die etwa beim Parkinson-Syndrom die krankhaft überaktiven Kernregionen des Gehirns hemmen. In ähnlicher Weise soll das Verfahren nun auch bei Epilepsie-Patienten zur Unterdrückung von Anfällen angewandt werden. Mit neuartigen Rückenmarkimplantaten könnten querschnittgelähmten Menschen künftig eine weitgehend normale und ermüdungsfreie Gangkontrolle erreichen – ein Quantensprung für die Patienten. Diese Technik bedarf aber noch umfassender Forschung.
Extremitätenprothesen funktionieren dann besonders gut, wenn die nachgebildeten Gelenke möglichst simultan und reibungsarm gesteuert werden können. Für den Antrieb von Ventilen und Kupplungen werden mittlerweile Flüssig-Materialien entwickelt, deren Fließeigenschaften durch elektrische oder magnetische Felder verändert werden – damit würden mechanische Zwischenstücke entfallen.
Standort Deutschland weit vorne
Wissenschaftlich und wirtschaftlich gehört Deutschland zu den international wichtigsten Standorten in der Neuroprothetik. Hinter den USA und Japan ist es der drittgrößte Medizinproduktehersteller. In diesem Industriezweig arbeiten insgesamt über 108.000 Menschen. Die überwiegend mittelständischen Betriebe erzielten im Jahre 2002 einen Jahresumsatz von mehr als 14 Milliarden Euro. Bei Implantaten und Prothesen hat sich die Produktion seit 1995 mehr als verdoppelt. Da Forschung und Entwicklung langwierig und kostenintensiv sind, muss – so die Autoren der Studie – „die Medizinprodukteindustrie auch in Zukunft einen wirtschaftlichen Anreiz haben, ihre Forschungsanstrengungen zu verstärken und braucht ein innovationsoffenes Gesundheitssystem“.
(VDE Verband der Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik, 26.10.2005 – NPO)