Auf den ersten Blick eine Vase, auf den zweiten zwei einander zugewandte Gesichter im Profil – dieses Vexierbild kennt fast jeder. Wenn wir es betrachten, muss sich das Gehirn zwischen den beiden möglichen Interpretationen der Zeichnung entscheiden – aber wie geschieht dies? Wissenschaftler haben jetzt herausgefunden, dass hier spezielle Schaltkreise des Gehirns in Aktion treten.
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Wie Rudiger von der Heydt, Professor für Neurowissenschaften an der amerikanischen Johns Hopkins Universität, in einer Veröffentlichung im Journal „Neuron“ beschreibt, fällt die Entscheidung im Gehirn innerhalb von Sekundenbruchteilen. Die speziellen Schaltkreise sorgen dafür, dass die Information über die wahrgenommenen Formen zu einem Ganzen zusammengesetzt wird, selbst wenn der Betrachter seine Aufmerksamkeit nur auf einen Teil der Struktur richtet.
Verarbeitung unabhängig von bewussten Mechanismen
Die Studie, die auf Ableitungen von Nervensignalen in der Sehrinde von Makaken basiert, könnte auch eine seit mehr als hundert Jahren strittige Frage in der Wahrnehmungspsychologie beantworten, das Phänomen der Gestalt-Grund-Organisation. In ihre geht es um den Anteil unterbewusster Prozesse an der Wahrnehmung. „Zu Beginn des 20. Jahrhunderts postulierten die Gestalt-Psychologen die Existenz von Mechanismen, die visuelle Information automatisch und unabhängig von dem, was wie wissen, denken oder erwarten, verarbeiten“, erklärt von der Heydt. „Seitdem war es immer die Frage, ob diese Mechanismen tatsächlich existieren oder nicht. Aber sie tun es. Unsere Arbeit zeigt, dass dieses System kontinuierlich die gesamte Wahrnehmung organisiert, selbst wenn wir bewusst nur einen Teil davon beachten.“
Die Ergebnisse der aktuellen Studie deuten daraufhin, dass dieses automatische Verarbeiten von Bildern jedes Mal dann wiederholt wird, wenn der Blick des Betrachters auf etwas Neues fällt – was normalerweise drei bis vier mal in der Sekunde auftritt. Zusätzlich besitzt das Gehirn offenbar ein „ausgeklügeltes Programm“, so von der Heydt, das die Information nach ihrer augenblicklichen Relevanz beurteilt und entsprechend bearbeitet.
Ordnung im” Legosteinhaufen”
“Das Ergebnis dieser Beurteilung ist eine interne Datenstruktur, ähnlich einer Datenbank, die unsere Wahrnehmungsmechanismen erst effizient macht”, erklärt der Wissenschaftler. „Ein Bild kann mit einem Sack voll mit Tausenden von durcheinander gewürfelten Legosteinen verglichen werden. Um ein Objekt im Raum wahrzunehmen, muss das visuelle System diese Legosteine erst in sinnvolle Blöcke ordnen und auch die ‚Anfasser’ liefern, mit denen der eine oder andere Block dann zur weiteren Bearbeitung aus dem Sack gezogen werden kann.“
Nach Ansicht des Forschers könnte diese und andere Studien wichtige theoretische Basis für zukünftige Fortschritte in der Diagnose und Therapie von neurologischen Erkrankungen liefern. „In den letzten Dekaden gab es rasche Fortschritte in den Neurowissenschaften auf einer sehr breiten Front, vor allem auf molekularer und zellulärer Ebene. Doch dieser Fortschritt zeigt auch immer deutlicher, dass uns noch immer das Verständnis der Gehirnfunktionen auf der Systemebene fehlt.“
Gefordert sei, so der Wissenschaftler, ein Verständnis der Basis der mentalen Prozesse. Dabei sei die Untersuchung von Einzelzellreaktionen in Tieren nur ein Weg, ein anderer die Beobachtung der Gehirnaktivität über die zahlreichen neuen bildgebenden Verfahren, Psychophysik und computergestützte Methoden. Als einen ersten Schritt sieht er den jetzt gewonnenen Einblick in die Funktionsweise der visuellen Wahrnehmung und der Sehrinde. Sie könnten auf lange Sicht dazu beitragen, neurologische Symptome bei Sehstörungen besser zu erkennen und zu behandeln.
(Johns Hopkins University, 10.08.2005 – NPO)