Umwelt

Letzte große Wildflusslandschaft Europas in Gefahr

Auenlandschaft soll Rückhaltebecken weichen

Der Tagliamento in seinem breiten Flussbett © K. Trockner

Der Tagliamento im norditalienischen Friaul ist der letzte große Alpenfluss in Europa, der über 170 Kilometer ungebändigt von den Alpen ins Mittelmeer fließt. Vom Mittellauf am Alpenrand bis zum Unterlauf erstreckt sich die aktive Aue mit Schotterbänken und Auwäldern. Doch die Idylle soll mehreren Staubecken weichen. Wasserbauer, Biologen und Landschaftsplaner warnen vor den Folgen des Eingriffs in die Natur.

Bereits auf dem Satellitenbild sticht das weiße Schotterband des Flusses hervor. Der 150 Quadratkilometer große Korridor, morphologisch noch über weite Abschnitte intakt, macht den Tagliamento zu einer europaweit einzigartigen und eindrucksvollen Flusslandschaft. Er gilt zudem als zentrale Biotopverbundachse im europäischen Schutzgebietssystem NATURA 2000, das zum Ziel hat, das Biologische Erbe Europas zu sichern. Der Tagliamento verbindet die Alpen mit dem Mittelmeer und an ihm sind Auenlebensräume in einer Ausdehnung, Natürlichkeit und Durchgängigkeit vorhanden, wie an keinem anderen Alpenfluss, so die Ansicht von Experten.

Für die Umsetzung der Europäischen Wasserrahmenrichtlinie – mit dem Ziel die europäischen Flüsse bis 2015 wieder in einen guten ökologischen Zustand zurückzuführen – gilt der Tagliamento als Referenzgewässer. Er ist der letzte Fluss, der quasi als Freiluftlabor zeigt, wie natürlichen Auen funktionieren. Er vermittelt eindrucksvoll, wie unsere Flussauen noch vor 150 Jahren, das heißt vor dem konsequenten Flussausbau, unsere Landschaft gestalteten. Doch die Flusslandschaft ist in Gefahr.

Rückhaltebecken statt Auenidylle?

Alte Hochwasserfreilegungspläne, die nach dem Jahrhunderthochwasser 1966 geplant wurden, sind im Jahre 2000 durch die italienische Regierung genehmigt worden. Diese Planung sieht im Mittellauf bei Spilimbergo bis zu 14 Quadratkilometer große Retentionsbecken vor, um die darunter liegenden Gemeinden bei extremen Hochwassern zu schützen. Die Becken sind jedoch als harte technische Bauwerke in der aktiven Aue geplant und zerstören die gesamte Aue auf einer Länge von fünf Kilometer. Sie werden auch zu starken Veränderungen der nachfolgenden rund 50 Kilometer langen Fliessstrecke führen.

Die Gemeinden im direkten Einflussbereich der Retentionsbecken sind gegen die Ausbaupläne der italienischen Regierung, da dadurch das sich gerade entwickelnde Potenzial des Fremdenverkehrs der Region zerstört würde – der Tagliamento gilt als Geheimtipp für Naturliebhaber in Europa. Die flussabwärts liegenden Gemeinden vor allem um Latisana stimmen den Ausbauplänen zu, da dadurch weiteres hochwassersicheres Bau- und Kulturland entsteht.

Wasserexperten fordern Alternativplan

Vor diesem Hintergrund organisierte der Flussexperte Prof. Dr. Norbert Müller von der Fachhochschule Erfurt zusammen mit dem WWF Alpenprogramm die 1. Internationale Flusskonferenz Tagliamento vom 21.- 24. Juli 2005 in Gemona am Tagliamento. Zielgruppe der Konferenz waren ausgewählte Wasserbauer, Biologen und Landschaftsplaner, die in drei Workshops verschiedene Flussabschnitte besuchten und dort unter der Leitung von einem Expertenteam flussmorphologische und biologische Untersuchungen durchführten.

Die Teilnehmer der Flusskonferenz waren schockiert über die Ausbaupläne der Italienischen Regierung, da sie jeder guten fachlichen Praxis des Hochwasserschutzes und einer nachhaltigen europäischen Umweltpolitik widerspreche. Während man europaweit erkannt habe, dass technischen Bauwerke keinen nachhaltigen Hochwasserschutz bewirken, sondern das aus Gründen des Hochwasserschutzes die Auen als natürliche Retentionsräume wieder vergrößert werden müssen, drohe nun hier die Gefahr, dass alte Fehler des technischen Wasserbaus zur Zerstörung der letzten Wildflusslandschaft in Europa führen.

Sie forderten, dass umgehend Alternativkonzepte zum Hochwasserschutz erarbeitet werden, die der herausragenden Stellung des Tagliamento in Europa gerecht werden. Sie regten an, dass dazu von der EU Mittel zu Verfügung gestellt werden beispielsweise in Form von einem LIFE Projekt. Ein sehr gutes Beispiel dazu sei das Österreichische Lechtal, in dem seit 2002 über LIFE Mittel die Auen wieder vergrößert werden und damit moderne nachhaltige Hochwasserpolitik mit Naturschutz und Fremdenverkehrsentwicklung einer Region gekoppelt werden.

(Fachhochschule Erfurt, 03.08.2005 – NPO)

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