Ein 115 Millionen Jahre alter Kieferknochen könnte einen Teil der bisherigen Annahmen zur Evolution des Hörens beim Menschen und anderen Säugetieren umwerfen. Wie Wissenschaftler in der Zeitschrift Science berichten, liefert der jüngst entdeckte, von einem winzigen eierlegenden Verwandten des Schnabeltieres stammende Knochen überzeugende Belege dafür, dass die Umwandlung von Teilen des Kieferknochens in die kleinen Knöchelchen des Mittelohrs sich mindesten zwei Mal in der Geschichte der Säuger wiederholt haben muss.
Bei einer Grabung an der Südküste des australischen Landesteils Victoria entdeckten Paläontologen der Universität von Chicago um James Hopson, den Unterkieferknochen eines kleinen primitiven Säugers, des Kloakentiers Teinolophos trusleri, das den heutigen Spitzmäusen ähnelt. “Die Ohrknöchelchen hängen hier noch am Unterkiefer, was zeigt, dass die vollständige Umwandlung erst in späteren Kloakentieren und unabhängig von der Transformation bei dem gemeinsamen Vorfahren der Beuteltiere und Plazentatiere stattgefunden haben muss“, erklärt Hopson, Professor für Biologie und Anatomie der Chicagoer Universität.
Evolutionäre „Dopplung“ belegt
Viele Paläontologen bezweifelten bisher, dass sich eine scheinbar so komplexe Anpassung mehr als einmal innerhalb der Säugetiere ereignet haben könnte, doch nach Ansicht der Wissenschaftler deutet der Knochen von Teinolophos genau darauf hin. „Etwas Vergleichbares wurde noch niemals zuvor entdeckt“, erklärt Tom Rich, Kurator am Museum für Wirbeltier-Paläontologie in Melbourne. „Diese Kieferknochen könnten der älteste Fossilfund von Kloakentieren auf der Erde sein. Einige dieser Knochen zeigen Facetten für so genannte akzessorische Knochen – Knochen, die Menschen und die meisten anderen Säugetiere nicht besitzen.“
Der Unterkiefer des Menschen besteht aus nur einem Knochen, dem Zahnbein. Einige akzessorische Knochen traten zuletzt bei lange ausgestorbenen Reptilien, Vorfahren der heutigen Säuger, auf. Sie wandelten sich im Laufe der Evolution in die Gehörknöchelchen des Mittelohres, Hammer, Amboss und Trommelfellhalterung, um. Nach Ansicht von Rich war diese Entwicklung bei einigen der fortgeschrittensten Reptilien sogar bereits abgeschlossen.
Dies deutet darauf hin, dass die Entwicklung des Hörsystems mit seiner Knochenkette vom Trommelfell bis zum Innenohr sich ein Mal in diesen säugerähnlichen Reptilien entwickelt hat, später dann aber nochmals unabhängig bei den Kloakentieren, zu denen Teinolophos trusleri gehört.
Fossilien belegen mehrfache Umwandlung
Doch wie ist zu erklären, dass diese angeblich so seltene und unerwartete evolutionäre Umwandlung bei den frühen Säugertieren gleich mehrfach aufgetreten ist? „Aktuelle Studien von Kiefer und Ohrfunktion bei primitiven säugertierähnlichen Reptilien zeigen, dass der größere der zusätzlichen Knochen das Trommelfell gestützt haben könnte, während er noch Teil des Unterkiefers war“, erklärt Hopson. Aber spätestens nachdem das Zahnbein beim unmittelbaren Vorfahren der Säuger ein neues Gelenk mit dem Schädel ausgebildet hatte, könnten die akzessorischen Knochen ihren Posten am Kiefer endgültig verlassen haben und sich ausschließlich der Schallübertragung im Ohr gewidmet haben.
“Die Fossilien belegen, dass dieser Prozess in jeder der Entwicklungslinien allmählich ablief, so dass die komplette Freisetzung der Ohrknöchelchen vom Kiefer und ihre Befestigung am Schädel viele Male unabhängig von einander auftraten“, so der Forscher. „Nur die Beweise aus den Fossilien konnte diese verwickelte Geschichte einer komplexen Anpassung enträtseln.“
(University of Chicago Medical Center, 11.02.2005 – NPO)