Ein durch das Gammastrahlenobservatorium „Integral“ der ESA entdeckter Gammablitz gehört zu den erdnächsten und zugleich den schwächsten, die man bisher beobachtet hat. Wie ein internationales Team von Astronomen unter Beteiligung von Wissenschaftern des Max-Planck-Instituts für Astrophysik in Garching jetzt herausgefunden hat, legt der Gammablitz mit der Bezeichnung GRB 031203 die Vermutung nahe, dass eine ganze Population von energiearmen Gammablitzen bislang der Beobachtung entgangen ist.
Kosmische Gammablitze (gamma-ray bursts, GRB) sind Gammastrahlenausbrüche, die weniger als eine Sekunde, aber auch viele Minuten dauern können. Sie können in allen Himmelsrichtungen mit gleicher Wahrscheinlichkeit beobachtet werden. Man vermutet, dass ein großer Teil von ihnen dadurch entsteht, dass sich ein Schwarzes Loch im Zentrum eines sterbenden Sterns in einer weit entfernten Galaxie bildet. Astronomen nehmen an, dass eine heiße Gasscheibe um das Schwarze Loch riesige Energiemengen freisetzt, wenn das Gas ins Schwarze Loch fällt, wodurch ein sehr energiereicher Strahl („Jet“) entlang der Rotationsachse des sterbenden Sterns entsteht.
Bisherige Vorstellungen besagen, dass alle Gammablitze ähnliche Energiemengen in Gammastrahlung freisetzen. Der Teil, der davon auf der Erde empfangen wird, sollte demzufolge nur von der „Breite“ (Öffnungswinkel) des Strahls, der Strahlrichtung sowie der Entfernung der Quelle von der Erde abhängen. Die empfangene Energie wäre daher größer, wenn der Strahl eng ist und genau auf uns zeigt, und kleiner, wenn der Strahl breit oder von uns weg gerichtet ist.
Keine „Standkerzen“ im All
Die neuen Messungen, durchgeführt mit den Hochenergie-Observatorien „Integral“ und „XMM-Newton“ der ESA, zeigen jedoch, dass dieses Bild zu einfach ist und die Energie, die in Gammablitzen abgestrahlt wird, deutlich variieren kann. „Die Idee, dass alle Gammablitze dieselbe Menge Gammastrahlung freisetzen oder, wie wir sagen ‚Standardkerzen’ sind, wird durch die neuen Beobachtungen widerlegt“, sagt Dr. Sergey Sazonov, einer der Autoren der Studie und Wissenschaftler am Space Research Institute der russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau und am Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching bei München.
Sazonov und ein internationales Team von Wissenschaftlern haben den von „Integral am 3. Dezember 2003 gesichteten Gammablitz, dem man die Bezeichnung GRB 031203 gegeben hatte, über Monate mit Hilfe einer ganzen Armada von Observatorien auf der Erde und im Erdorbit intensiv untersucht. In rekordverdächtigen 18 Sekunden nach dem Einsetzen des Blitzes hatte das Blitz-Alarm System von „Integral“ bereits die ungefähre Position von GRB 031203 am Himmel bestimmt und die Information an ein Netzwerk von Observatorien rund um den Globus weitergeleitet. Wenige Stunden später konnte eines davon, der „XMM-Newton“-Satellit der ESA, die Position viel genauer festlegen. XMM entdeckte zugleich eine schnell schwächer werdende Quelle von Röntgenstrahlung, die danach auch von optischen Teleskopen und Radioteleskopen auf der Erde gesichtet wurde.
Energie tausend Mal geringer
Diese eingehende Flut von Daten brachte dann die Information, dass GRB 031203 in einer „nur“ 1,3 Milliarden Lichtjahre entfernten Galaxie aufgeleuchtet war und damit einer der erdnächsten Gammablitze ist, die jemals gesichtet wurden. Dabei unterschied sich die Art und Weise, wie GRB 031203 mit der Zeit immer schwächer wurde und wie sich seine Energie auf verschiedene Wellenlängen verteilte, zunächst nicht von weiter entfernten Gammablitzen. Doch allmählich wurde den Forschern klar, dass die Vorstellung von „Standardkerzen“ bei diesem Ausbruch möglicherweise nicht zutrifft. „Weil er so nah war, sollte GRB 031203 eigentlich sehr hell erscheinen, doch seine Energie in Gammastrahlung ist nach Messungen von „Integral“ etwa tausend mal geringer als wir es bei einem Gammablitz normalerweise erwarten“, sagt Sazonov.
Ein Gammablitz, der im Jahr 1998 in einer noch näheren Galaxie gesichtet wurde, war zwar noch rund hundert mal weniger hell als GRB 031203, doch konnten die Astronomen nicht eindeutig klären, ob es sich wirklich um einen echten Gammablitz gehandelt hatte. Denn der größte Teil seiner Energie wurde in Röntgenstrahlung und nicht in Gammastrahlung freigesetzt. Die Messungen von Sazonov und seinem Team für GRB 031203 bedeuten nun, dass es tatsächlich intrinsisch schwächere Gammablitze zu geben scheint.
Nachglühen untersucht
US-Astronomen, geleitet von Alicia Soderberg vom California Institute of Technology in Pasadena (USA), haben das „Nachglühen“ (afterglow) von GRB 031203 genau untersucht und weitere Belege für diese Schlussfolgerung gefunden. Das Nachglühen, das entsteht, wenn die Explosionswelle des Gammablitzes das verdünnte Gas in der Umgebung der Blitzquelle aufheizt, kann über Wochen oder Monate andauern und wird dabei allmählich schwächer. Mit dem „Chandra“-Röntgenobservatorium der NASA sahen Soderberg und ihre Mitarbeiter, dass die Helligkeit im Röntgenlicht auch etwa tausend mal geringer war als bei typischen, weit entfernten Gammablitzen. Beobachtungen der Forschergruppe mit dem Very Large Array des National Radio Astronomy Observatory in Socorro (USA) bestätigten auch im Radiowellenbereich eine Quelle, die nicht die übliche Helligkeit erreichte.
Sazonov und Soderberg betonen, dass ihre Teams sorgfältig die Möglichkeit überprüft haben, ob vielleicht der Hauptanteil der Energie von GRB 031203 der Messung durch „Integral“ entgangen sein könnte. Sazonov meint jedoch, dass „die Tatsache, dass die meiste Energie, die wir gesehen haben, im Gammabereich und nicht als Röntgenstrahlung abgegeben wurde, bedeutet, dass wir den Strahl des Gammablitzes fast direkt auf seiner Achse beobachtet haben“. Daher sei es unwahrscheinlich, dass ein Großteil der freigesetzten Energie unsichtbar geblieben ist.
Unbekannte Population von Gammablitzen
Diese Entdeckung legt nahe, dass eine bisher unbekannte Population von Gammablitzen existiert, welche viel näher, aber auch viel schwächer ist als die Mehrzahl der bislang bekannten, sehr energiereichen und sehr weit entfernten Blitze. Die dafür verantwortlichen Objekte könnten sehr zahlreich sein und daher sogar noch häufiger durch Gammablitze aufleuchten.
Die meisten Ereignisse dieser Art sind bislang der Beobachtung entgangen, weil sie sich an der unteren Grenze der Messbarkeit mit früheren und heutigen Instrumenten befinden. „Integral“ könnte gerade empfindlich genug sein, um in den kommenden Jahren noch einige dieser Blitze zu registrieren. Diese wären allerdings nur die Spitze eines Eisbergs. Erst Gamma-Observatorien der nächsten Generation, wie die geplante Swift-Mission der NASA, sollten geeignet sein, die Suche auf noch viel energieärmere Blitze auszudehnen, von denen man eine noch größere Zahl vermutet.
(MPG, 09.08.2004 – NPO)