Neurobiologie

Gesichtsblindheit häufiger als angenommen

Prosopagnosie meist erblich bedingt

Menschen, die an Gesichtsblindheit, Prosopagnosie, leiden, sind unfähig, Gesichter zu erkennen. Bisher galt diese erblich bedingte Krankheit als sehr selten, doch Wissenschaftler von der Universität Münster haben jetzt nachgewiesen, dass die angeborene Prosopagnosie familiär gehäuft vorkommt und sehr viel verbreiteter ist als bisher angenommen.

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Sicher, das Gesicht hat man schon einmal gesehen. Ist es die Nachbarin, die neu eingezogen ist? Die Arbeitskollegin? Die Verkäuferin aus dem Supermarkt? Das Gefühl, man kenne ein Gesicht, ohne es zuordnen zu können, ist jedem vertraut. Doch für Prosopagnostiker stellt dies den Normalzustand dar: Sie sind zwar in der Lage, Gesichter als Gesichter zu identifizieren. Sie können die Mimik deuten und die Gesichtszüge beschreiben. Doch sie sind unfähig, sie einem bestimmten Menschen zuzuordnen. Bisher war dieses Phänomen vorwiegend als erworbene Prosopagnosie durch Unfälle oder Krankheiten bekannt.

Zwei Prozent der Bevölkerung betroffen

„Bei einer Umfrage unter rund 500 münsterschen Schülern haben wir festgestellt, dass mindestens zwei Prozent an Prosopagnosie leiden“, so Martina Grüter, die ihre Doktorarbeit über die Erblichkeit der angeborenen Prosopagnosie geschrieben hat. Ist ein Fall von Prosopagnosie bekannt, kann man davon ausgehen, dass es weitere in der Familie gibt. Dies hat ihre Auswertung von rund 50 Stammbäumen ergeben.

Nur Betroffene geben die Krankheit weiter, Männer und Frauen sind gleichermaßen betroffen. „Wenn Betroffene zum Arzt gehen, hören sie oft, sie seien gesund und sie sollten sich nur mehr konzentrieren“, erzählt Martina Grüter. Bevor sie begann, systematisch nach weiteren Betroffenen zu suchen, waren weltweit lediglich zehn Einzelfälle von angeborener Prosopagnosie in der wissenschaftlichen Literatur beschrieben worden.

Nicht nur die überraschend große Zahl von Prosopagnostikern, die sie bisher in Deutschland diagnostiziert hat – rund einhundert sind es bisher -, macht ihre Forschung so wichtig. Für die Betroffenen ist es eine große Erleichterung, wenn sie erfahren, dass es nicht Vergesslichkeit oder mangelnde Konzentration ist, die es ihnen unmöglich macht, ihre Mitmenschen zu erkennen.

Häufig Fehldiagnosen

Heilbar ist das Phänomen nicht, doch es lassen sich Strategien entwickeln, um das Handicap zu umgehen. Die erwachsenen Patienten haben sie oft unbewusst entwickelt, Kinder aber leiden stark, denn sie fühlen sich ausgegrenzt und in Gruppen unwohl. Kommen sie in den Kindergarten oder in die Schule, fällt es ihnen schwer, Kontakt mit den anderen Kindern aufzunehmen. Sie erkennen sie von Tag zu Tag nicht wieder, sie müssen stets von neuem die Bekanntschaft der anderen schließen. Deshalb neigen sie dazu, sich dicht bei den ihnen vertrauten Menschen zu halten.

Prosopagnostiker schauen häufig andere Menschen nicht an, da ihnen die Informationen, die ein Gesicht vermittelt, wenig bedeuten. Sie achten auf Stimme, Körperhaltung und Kleidung, um andere Menschen wiederzuerkennen, was unhöflich wirken kann. Und selbst wenn ein Prosopagnostiker dem Gegenüber ins Gesicht schaut, blickt er oft durch ihn hindurch – scheinbar geistesabwesend und nicht bei der Sache. Im schlimmsten Fall diagnostizierten die Ärzte auch schon Autismus oder Asberger-Syndrom bei den betroffenen Kindern.

Martina Grüter hat eine rund anderthalbstündige strukturierte Anamnese entwickelt, mit deren Hilfe sich Prosopagnosie zielsicher identifizieren lässt. „Das wichtigste Kriterium ist das sichere Erkennen von Gesichtern. Diese Gewissheit, Menschen sofort zuordnen zu können, fehlt Prosopagnostikern“, erklärt sie. „Außerdem ist es wichtig zu erfahren, ob die betroffenen Personen Strategien entwickelt haben, um sich trotzdem an Menschen zu erinnern. Denn Strategien entwickelt nur, wer sie braucht und dem das Nicht-Erkennen häufiger passiert.“ So hilft Grüter, Fehldiagnosen zu vermeiden. Kinder mit einem harmlosen Defekt werden nicht mehr als autistisch eingestuft, umgekehrt konnte sie in einem Fall klar nachweisen, dass keine Prosopagnosie, sondern eine gravierendere Störung vorlag.

Eindeutig genetisch

Dass Prosopagnosie genetisch bedingt ist, kann Martina Grüter inzwischen eindeutig nachweisen. Unklar ist allerdings immer noch, was im Gehirn passiert, wenn ein Gesicht erkannt wird. „Es gibt bei Prosopagnostikern keine sichtbaren Veränderungen im Gehirn“, erklärt Dr. Thomas Grüter, der ebenfalls an den Forschungen seiner Frau beteiligt ist. Die Verarbeitung der sensorischen Eindrücke von Gesichtern wird zwar intensiv erforscht, ist aber noch lange nicht erklärt.

Durch Untersuchungen per Elektroenzephalogramm (EEG) ließ sich nachweisen, dass bereits circa 170 Millisekunden nachdem ein Gesicht betrachtet wurde, eine charakteristische Welle im EEG zu erkennen ist. Das Hirn unterscheidet also sehr frühzeitig zwischen Gesicht und anderen Objekten. Nachgewiesen ist ebenfalls, dass die so genannte „Fusi form Area“ (FFA) auf dem rechten Schläfenlappen immer dann besonders aktiv ist, wenn Gesichter betrachtet werden. Allerdings sind bei unterschiedlichen Versuchspersonen noch andere Gebiete aktiv, so dass der Ort, an dem das Hirn Gesichter erkennt, so immer noch nicht eindeutig lokalisiert ist.

Strategien gegen das Handicap

Eine Therapie gibt es bisher nicht. Wohl aber einfache Hilfen, die das Leben für die Betroffenen leichter machen. Hilfreich waren für Martina Grüter dabei die Gespräche mit einer Patientin, die an erworbener Prosopagnosie durch eine Krankheit leidet. Denn sie weiß im Gegensatz zu jenen, die sich noch niemals an Gesichter haben erinnern können, welche Fähigkeit sie verloren hat. Ein Jahr habe es gedauert, bis diese wieder gelernt hatte, Menschen voneinander zu unterscheiden. Dafür prägte sie sich bewusst einige Merkmale ein,an denen sie Gegenüber bei der nächsten Begegnung sicher identifizieren konnte. „Hilfreich dabei ist die Form des Haaransatzes, der Wimpern und Ohren, die Zahnstellung, Hände und Stimme“, weiß Martina Grüter. „Eben all jene Kennzeichen, die unveränderlich sind.“ Sich die Kleidung einzuprägen macht wenig Sinn, wohl aber, den Stil ungefähr einzuschätzen.

Erwachsene haben diese Strategien meist unbewusst entwickelt, Kinder dagegen fehlt die Routine, um mit ihrem Handicap umzugehen. Deshalb haben die Grüters einen Leitfaden für Eltern und Lehrer herausgegeben, in dem sie prägnant die Ursachen und Formen der Prosopagnosie beschrieben. Darüber hinaus geben sie Tipps für den Umgang mit gesichtsblinden Kindern.

Hilfreich für die Integration in die Klasse ist es beispielsweise, von allen Kindern Fotos zu machen und sie dann mit den Namen versehen im Klassenraum aufzuhängen. So können betroffene Kinder sich immer wieder vergewissern, wer ihr Gegenüber ist. Namens- und Kennenlernspiele trainieren ebenfalls die Fähigkeit, die Mitschüler zu erkennen. Anstecker mit Symbolen, ein Memoryspiel mit den Fotos der Klassenkameraden und spezielle Kennenlernspiele im Sportunterricht, um die ungewohnte Kleidung aufzufangen, sind weitere Hilfen.

Am Institut für Humangenetik soll nun genauer geklärt werden, woher die genetischen Ursachen rühren. Damit ließe sich die Diagnose, die bisher auf der klassischen Anamnese, also dem ärztlichen Gespräch, beruht, noch weiter differenzieren. „Wissenschaftlich ist das sehr reizvoll, weil wir eine genau umschriebene Gruppe haben, die alle den selben genetischen Defekt haben müssen“, erklärt Martina Grüter.

(idw, Westfaelische Wilhelms-Universität Münster, 05.02.2004 – NPO)

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