Forscherinnen und Forscher der TiHo entwickeln Ersatzmethode mit Heuschrecken, um zu testen, ob Chemikalien neurologische Entwicklungsstörungen bei Kindern verursachen.
In den letzten Jahren hat die Zahl neurologischer Entwicklungsstörungen bei Kindern zugenommen. Epidemiologische Daten legen nahe, dass Faktoren des Lebensstils und Chemikalien, die in unserem Umfeld eingesetzt werden, dazu beitragen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Instituts für Physiologie und Zellbiologie der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover (TiHo) veröffentlichten in der Zeitschrift ALTEX einen Test, mit dem Chemikalien daraufhin überprüft werden können – ohne dass dafür Labornager eingesetzt werden müssen.
Das Gehirn des heranwachsenden Organismus reagiert empfindlicher auf Chemikalien als das erwachsene. Für chemische Verbindungen wie Pestizide, Quecksilberverbindungen, PCB oder Toluol konnte bereits gezeigt werden, dass sie eine Ursache für Entwicklungsstörungen bei Kindern sein können. „Die Anzahl bisher untersuchter Chemikalien ist aber leider verschwindend gering, da die erforderlichen Testverfahren sehr aufwendig sind und eine hohe Anzahl von Tierversuchen mit Labornagern erfordern. Aussagekräftige und zeitsparende Tests, die sich auf Zellkulturverfahren beschränken und eine Alternative zum stark belastenden Tierversuch sind, werden daher dringlich benötigt“, erklärt Professor Dr. Gerd Bicker aus dem Institut für Physiologie und Zellbiologie.
Wie funktioniert die Methode?
Während der Embryonalentwicklung der Säugerhirnrinde steuern Leitsignale wie das Protein Semaphorin, wohin die Fortsätze der Nervenzellen (Axone) wachsen. Die Signalstoffe erzeugen einen Konzentrationsgradienten, an dem sich die Axone orientieren. „Im heranwachsenden Heuschreckenembryo funktioniert es genauso: Semaphorine sind Signalgeber für die sogenannten Pionierneuronen, die im sich entwickelnden Nervensystem die ersten Axone aussenden“, erklärt Gregor Bergmann, der sich dem Thema in seiner Doktorarbeit bei Professor Bicker widmet. „Semaphorine wurden in der Evolution vom Virus bis zum Menschen konserviert, also kaum verändert.“ Die Pionierneurone des Insektenembryos legen entlang von Semaphoringradienten die erste Sinnesbahn von den Gliedmaßen in das zentrale Nervensystem. Die Ähnlichkeit der Wegfindungsmechanismen zwischen Insektenembryos und der Säugerhirnrinde veranlasste Bickers Arbeitsgruppe, die Heuschreckenembryonen als entwicklungstoxikologisches Testsystem einzusetzen.
Bisherige Ersatz- und Ergänzungsmethoden erfassen hauptsächlich relativ einfach messbare Zelleigenschaften wie die Lebensfähigkeit von Zellen, die Zellvermehrung oder die Synthese neuronaler Proteine. Die Entstehung eines funktionellen Gehirns erfordert aber vielschichtige Interaktionen verschiedener Zelltypen, beispielsweise wenn Nervenfasern in der komplexen Umgebung des neuronalen Gewebes präzise den Weg zu ihren Zielgebieten finden müssen. Das neuartige Testsystem wird dieser Komplexität gerecht, indem die Forscherinnen und Forscher den vollständigen intakten Insektenembryo zusammen mit den Testchemikalien kultivieren. Anschließend quantifizieren sie mit fluoreszenzmikroskopischen Methoden, ob die Pionierneuronen im Gewebe entstehen, auswachsen und Wegfindungsfehler machen. Die Ergebnisse des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projektes zeigen die Empfindlichkeit des Systems gegenüber Pestiziden, Kalziumkanalblockern und Substanzen, die den Aufbau des Zellskeletts beeinflussen.
Die Einsatzmöglichkeiten
Damit der Insektenassay routinemäßig als Ersatz- und Ergänzungsmethode für bisher verwendete Tierversuche eingesetzt werden kann, muss er standardisiert werden. „Der Prozess wird einige Jahre in Anspruch nehmen“, sagt Bicker. Danach könnte er genutzt werden, um zu bestimmen, ob die Hirnrinde unter Einfluss der Testchemikalien bei Säugern korrekt verschaltet wird. Zusätzlich könnte er als Ersatz- und Ergänzungsmethode verwendet werden, um pharmakologische Wirkstoffe zu screenen, die das Wachstum neuronaler Verbindungen fördern und so helfen, das Nervensystem nach Verletzungen zu regenerieren.
„Eine besondere Note bekommt das Projekt, wenn man sich vor Augen führt, dass Wissenschaftler seit einem Jahrhundert intensiv die Entwicklungsbiologie der Heuschrecke erforschen, um Strategien zur Bekämpfung dieses schwarmbildenden Schadinsekts zu entwickeln. Bei dieser Grundlagenforschung stellte sich heraus, dass der Heuschreckenembryo ein übersichtlicher Modellorganismus ist, um zu studieren, wie Nervenzellen sich bilden und auswachsen“, sagt Bicker. (ALTEX; doi: 10.14573/altex.1901291)
Quelle: Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover