Tastsinn und Motorik verbessern, ohne aktiv zu trainieren – das funktioniert tatsächlich. Neurowissenschaftler der Ruhr-Universität haben einen Handschuh entwickelt, der über schwache Stromimpulse die Nervenfasern stimuliert, die von den Händen ins Gehirn ziehen. Durch regelmäßige Anwendung dieser passiven Stimulation verbessert sich nicht nur die Wahrnehmung von Berührungsreizen, sondern auch die Willkürmotorik, zum Beispiel das Greifen. Ein Team um PD Dr. Hubert Dinse und Prof. Dr. Martin Tegenthoff behandelte damit erfolgreich eine Reihe von Menschen, die an den Folgen eines Schlaganfalls litten.
Nicht nur Übung macht den Meister
Der Königsweg, um sich neue Fertigkeiten anzueignen, lautet üben, üben, üben. Regelmäßig ein Instrument zu spielen oder Blindenschrift zu lesen trainiert Motorik oder Tastsinn – und bewirkt Veränderungen im Gehirn. Der Teil der Großhirnrinde, der den Handbereich repräsentiert, vergrößert sich durch das Training. Den gleichen Effekt erzielten die RUB-Wissenschaftler aber auch durch passive Stimulation. Wenn sie die Finger der Probanden wiederholt mit einem bestimmten zeitlichen Muster reizten, vergrößerten sich die zugehörigen kortikalen Karten. Gleichzeitig verbesserte sich der Tastsinn an den stimulierten Fingern. Von dem gleichen Effekt können auch Menschen mit Hirnschädigungen profitieren, zum Beispiel Schlaganfallpatienten.
Passive Stimulation mindert Beeinträchtigungen von Schlaganfallpatienten
Aktuell erleiden in Deutschland jedes Jahr nahezu 270.000 Menschen einen Schlaganfall. Probleme von Tastsinn und Motorik gehören zu den häufigsten Folgen. In Kooperation mit verschiedenen Reha-Kliniken testeten die RUB-Forscher die passive Stimulation als Behandlungsoption – an 50 Patienten kurz nach dem Schlaganfall (subakute Phase) und an sieben chronischen Patienten unter Langzeitbedingungen. Sie maßen zum Beispiel die Sensibilität des Tastsinns sowie die Propriozeption, also die Wahrnehmung des eigenen Körpers. Mit standardisierten Testbatterien erfassten sie zusätzlich alltagsrelevante Situationen: etwa kleine Gegenstände aufheben, eine Fütterbewegung nachmachen oder Objekte stapeln. In fast allen Fällen verbesserte sich die Leistung deutlich, auch wenn die Beeinträchtigungen durch die passive Stimulation nicht vollständig zurückgehen.
Leichte Anwendung im Alltag
Die sieben chronischen Patienten wandten die repetitive Stimulation regelmäßig zu Hause an, 45 bis 60 Minuten pro Tag, fünf Tage pro Woche, länger als ein Jahr. Ein Vorteil: Die passive Stimulation erfordert keine aktive Teilnahme oder besondere Aufmerksamkeit; sie kann während anderer Tätigkeiten – beim Spazieren gehen, Fernsehen oder Lesen – erfolgen. Elektrische Kontakte, die in Form von dünnen Fäden in das Material der Handschuhfinger eingewebt sind, senden kurze Stromimpulse. Die Stärke der Stimulation kann der Anwender selbst einstellen; sie sollte deutlich spürbar sein. Manche Nutzer beschreiben das Gefühl dabei als „Fingermassage“. Die Firma Bosana Medizintechnik vertreibt das patentierte Produkt.
Alterseffekte mit passiver Stimulation wettmachen
Die RUB-Neurowissenschaftler erforschen die passive Stimulation schon seit vielen Jahren, nicht nur an Personen mit Hirnschädigung, sondern auch bei gesunden jungen und älteren Menschen. Häufig unbemerkt verschlechtert sich der Tastsinn im Alter. Ältere Probanden haben zum Beispiel eine höhere Diskriminationsschwelle als jüngere; dieser Wert gibt an, wie weit zwei Reize voneinander entfernt sein müssen, damit eine Person sie als getrennte Reize wahrnimmt. Durch passive Stimulation ließ sich der Unterschied in der Diskriminationsschwelle wettmachen, und die Leistung der älteren Teilnehmer erreichte im Durchschnitt die der jüngeren.
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(Ruhr-Universität Bochum, 05.11.2013 – KSA)