Wir befinden uns nahe des Ortes Breasclete auf der Isle of Lewis. Hier, auf der sturmumtosten Insel der Äußeren Hebriden, liegt eines der größten bekannten steinzeitlichen Bauwerke der Britischen Inseln: die Anlage von Callanish. Bis zu fünf Meter hoch ragen die vor rund 5.000 Jahren aufgerichteten Menhire aus dem torfigen Boden der Insel. Zusammen bedecken sie eine Fläche von nahezu 5.400 Quadratmetern.
Wozu aber diente diese monumentale Anlage – so weit von den damaligen kulturellen Zentren entfernt auf einer unwirtlichen Insel gelegen? Erste Hinweise gibt ein näherer Blick auf die Anordnung der Steine: 13 große Menhire bilden den zwölf Meter breiten, leicht eiförmigen zentralen Steinkreis der Anlage. In seiner Mitte ragt ein zentraler Monolith in die Höhe, flankiert von den Resten eines kleinen Steingrabs. Vom Kreis geht eine rund 80 Meter lange Allee aus 19 Steinen in nördlicher Richtung ab. Drei weitere, einfache Steinreihen zeigen nach Westen, Süden und Osten.
Für die Archäoastronomen sind die Steinreihen ein erster Ansatzpunkt: Stimmt ihre Ausrichtung möglicherweise mit astronomischen Linien oder Positionen überein? Zumindest für die westliche vom Steinkreis ausgehende Menhirreihe ist das schell geklärt: Sie zeigt genau auf die Untergangsposition der Sonne zu den Tagundnachgleichen. Noch spannender aber sind andere Linien, denn sie scheinen keinen Sonnenbezug zu besitzen, wohl aber einen Zusammenhang mit charakteristischen Mondpositionen.
Das Geheimnis der Mondwenden
Der Mond kreist in rund 30 Tagen einmal um die Erde und verändert dabei stetig sein Gesicht. Er wandelt sichvom Neumond zunehmend bis zum Vollmond und wieder abnehmend bis zum nächsten Neumond. Aber nicht nur das. Auch die Positionen, an denen der Mond auf und untergeht, verschieben sich jeden Tag um ein Weniges, weil die Mondbahn gegen die Erdbahn um fünf Grad geneigt ist. Im Laufe eines Monats wandern so die Mondaufgänge vom Nordosten bis in den Südosten und zurück, die Untergänge pendeln zwischen Nordwesten und Südwesten.
Die Extrempositionen dieser Bewegung bleiben jedoch nicht konstant, sondern verschieben sich im Laufe mehrerer Jahre – schuld ist ein leichtes Taumeln der Mondbahn. Alle 18,6 Jahre erreicht der Winkel zwischen den Extrempositionen daher ein Maximum, die „große Mondwende“. Die kleinste Pendelbewegung, die „kleine Mondwende“, liegt jeweils genau dazwischen.
Kalender aus Stein
Der Mond zeigt damit nicht nur den Verlauf der Monate, sondern ermöglicht auch das Ablesen größere Zeitabschnitte. Diese Mondrhythmen waren unseren jungsteinzeitlichen und bronzezeitlichen Vorfahren sehr wohl bewusst, das zeigen von ihnen hinterlassene Bauwerke und auch die Anlage Callanish. Standen sie zum Zeitpunkt der großen Mondwende in der Allee der stehenden Steine, schien der Mond knapp über die östliche Steinreihe hinweg zu tanzen und in den Steinkreis einzutauchen. Für die Steinzeitmenschen und auch für ihre Nachfahren war dies das Zeichen für Ende und Neubeginn einer Ära, eines Zeitabschnitts in ihrem Mondkalender.
Dass Callanish vermutlich auch zu späteren Zeiten noch als Mondobservatorium genutzt wurde, deutet ein Bericht des römischen Geschichtsschreibers Diodorus Siculus aus dem ersten Jahrhundert vor Christus an. Er schreibt: „Auf der Insel befindet sich auch ein bemerkenswerter Tempel, der von sphärischer Form ist. Der Mond scheint, von dieser Insel aus betrachtet, von der Erde nur ganz wenig entfernt zu sein. Der Mondgott besucht die Insel alle 19 Jahre und tanzt die ganze Nacht durch von der Frühlings-Tagundnachtgleiche bis zum Aufgang der Plejaden.“
Aber nicht nur auf der entlegenen Hebrideninsel, auch auf dem Festland verfolgten unsere Vorfahren dieses Schauspiel des tanzenden Mondes: In der Nähe der Stadt Aberdeen entdeckten Archäologen zahlreiche Steinkreise eines speziellen Typs, die so genannten Recumbent Stones. Bei ihnen liegt innerhalb des Rings aus stehenden Menhiren ein einzelner Stein auf der Seite, der häufig noch von zwei Ringsteinen quasi eingerahmt wird. Dieser Altarstein besteht meist aus einem anderen Gesteinstyp und befindet sich am südlichen Ende des Kreises – genau in der Richtung, in der der Mond zum Zeitpunkt einer Mondwende untergeht.
Kein Einzelfall…
In einem Forschungsprojekt der Westfälischen Sternwarte Recklinghausen analysierten Astronomen die Ausrichtung von 50 schottischen Steinkreisen mit einem einzeln liegenden Altarstein. 42 von ihnen waren tatsächlich so angeordnet, dass der sinkende Mond zum Zeitpunkt seines flachsten Bogens langsam den Altarstein entlang wanderte. Ähnliche Mond-Bezüge finden sich auch bei jungsteinzeitlichen Anlagen in anderen Teilen Europas. In Irland beispielsweise deuten viele megalithische Steinreihen direkt auf markante Hügelkuppen am Horizont. Hinter diesen versinkt der Mond nur zu bestimmten Phasen seines Zyklus – und dient damit als Zeitgeber.
Stand: 01.02.2008