Phänomene

Das Rätsel der „erworbenen“ Inselbegabungen

Daniel Tammet: Mathegenie durch Epilepsie

Im Alter von drei Jahren erlebt Daniel Tammet etwas, das sein Leben für immer verändern sollte: Der in London lebende Junge erleidet einen schweren epileptischen Anfall, der ihn an den Rand des Todes bringt. Tammet überlebt, ist aber für immer verändert. Plötzlich bekommen Zahlen vor seinem inneren Auge Formen und Farben, aus Gleichungen werden komplexe Muster.

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„Wenn ich Zahlen multipliziere, sehe ich zwei Formen“, erklärt der inzwischen 29-jährige in einem Interview mit der britischen Zeitung „The Guardian“. „Das Bild beginnt sich dann zu verändern und zu entwickeln und eine dritte Form entsteht. Das ist dann die Lösung. Es sind mentale Bilder. Das ist wie Rechnen ohne zu denken.“ Doch auch Klänge, ob von Musik oder Sprache stammend, bilden in seinem Kopf Muster und ermöglichen ihm enorme Gedächtnisleistungen.

Tammet spricht heute zehn Sprachen, eine davon, Isländisch, brachte er sich innerhalb von nur einer Woche bei. Im Jahr 2004 stellte er einen neuen europäischen Rekord im auswendigen Rezitieren von Pi auf. 22.514 Nachkommastellen spulte das Mathegenie im Laufe von mehr als fünf Stunden herunter. Für ihn waren die Ziffern nicht abstrakt, sondern eine visuelle Geschichte, ein Film aus Farben und Formen, der vor seinem inneren Auge ablief.

Zwanghaftes Zählen

Die ungewöhnlichen Fähigkeiten haben jedoch auch ihre Schattenseiten: Tammet kann rechts und links nicht unterscheiden, nicht Autofahren und mit Reizüberflutung und Abweichungen von der Routine nur schlecht umgehen. Ein Besuch im Supermarkt überfordert ihn schon fast: „Es gibt dort einfach zu viele mentale Anregungen“, erklärt er im Guardian-Interview. „Ich muss mir jede Form und Textur anschauen. Jeden Preis und jedes Arrangement von Früchten oder Gemüsen. Anstelle darüber nachzudenken, welchen Käse ich einkaufen will, fühle ich mich einfach nur unwohl.“

Schon als Kind war er besessen von Zahlen. „Ich ging auf den Spielplatz aber nicht um zu spielen. Der Platz war von Bäumen umgeben. Wenn die andere Kinder Fußball spielten, zählte ich die Blätter.“ Der Umgang mit Menschen hingegen fällt ihm schwer. Der Anfall machte ihn zu einem Autisten vom Asperger-Typ, wie er selbst sagt. Aber er verlieh ihm auch seine ungewöhnlichen Talente – und bewies damit, dass vorgeburtliche Hirnschädigungen nicht die einzige Erklärung für die Entstehung von Inselbegabungen sein können.

Savant durch Unfall

Ein weiteres wichtiges Indiz dafür lieferte ein tragischer Unfall, der sich 1980 in Kalifornien ereignete. Ein zuvor völlig gesunder neunjähriger Junge wurde von einem Kopfschuss getroffen, der Teile der linken Gehirnhälfte zerstörte. Als Folge war er nun stumm, taub und rechtsseitig gelähmt. Gleichzeitig jedoch begann er, ungewöhnliche mechanische Talente zu entwickeln: Plötzlich konnte er selbst hochkomplizierte Mehrganggetriebe von Fahrrädern reparieren und erfand neue Geräte und Instrumente, wie beispielsweise einen Sandsack, der sich wie ein echter Gegner verhielt und automatisch auswich.

Die Schäden der linken Hirnhälfte hatten diese Fähigkeiten offenbar erst freigesetzt. Waren sie womöglich schon zuvor in ihm verborgen, aber durch bestimmte Hirnprozesse unterdrückt?

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Nadja Podbregar
Stand: 12.12.2008

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Das Rätsel der Savants
Auf Spurensuche bei „Rain Mans“ Geschwistern

Savant-Portraits
Bekannte Menschen mit Inselbegabungen kurz vorgestellt

Fenster in die Innenwelt
Ein Autist wird Ausnahmekünstler

Vom „Negro Tom“ zum „Savant Syndrom“
Die Entdeckung eines Phänomens

Gefangen im Selbst
Autismus und Asperger-Syndrom

Der echte „Rain Man“
Kim Peek - nicht alle Savants sind Autisten

Rechtes und linkes Hirn
Wo im Gehirn sitzen die Inselbegabungen?

Das Rätsel der „erworbenen“ Inselbegabungen
Daniel Tammet: Mathegenie durch Epilepsie

Steckt ein „Rain Man“ in uns allen?
Auf der Suche nach den Auslösern des Savant-Syndroms

Gibt es das „Savant-Gen“?
Die genetische Basis von Autismus und Inselbegabungen

Das „Geek“-Syndrom
Rätselhafte Autismus-Epidemie im Silicon Valley

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