Im Dezember 2009 geht ein 59-jähriger Schwede indischer Abstammung in die Medizingeschichte ein. Denn in seinem Blut finden Ärzte ein Bakterium mit einem völlig neuen, zuvor unbekannten Abwehrenzym. Der Patient, der sich wenige Monate zuvor in Neu Delhi wegen mehrfacher Infektionen hatte behandeln lassen müssen, war nach seiner Rückkehr in Schweden in ein Krankenhaus in Örebro überwiesen worden. Hier entnahmen ihm die Ärzte Blutproben um festzustellen, welche Bakterien seine unklaren Symptome verursachten.
Was sie dann entdecken, sorgt für internationales Aufsehen. Denn sie finden gleich zwei Bakterienarten, Klebsiella pneumoniae und Escherichia coli, die sich als panresistent erweisen – als immun gegen alle gängigen Antibiotika außer dem giftigen Colistin. Auf ihrem Plasmid tragen die gramnegativen Erreger ein Gen, das ihnen die Produktion einer Beta-Lactamase neuen Typs ermöglicht. Das „Neu Delhi Metallo-Beta-Lactamase“ (NDM-1) getaufte Abwehrenzym deaktiviert, ähnlich wie bereits bekannte ESBL-Stämme, auch Notfallantibiotika aus der Gruppe der Carbapeneme – und dies extrem effizient und leicht übertragbar.
Und „Patient Zero“ bleibt nicht der einzige, bei dem Super-Keime mit diesem neuen „Abwehrtrick“ entdeckt werden. Schon wenig später treten erste Fälle von NDM-1-Resistenzen in Großbritannien auf. Auch dort handelt es sich um Patienten, die vor kurzem erst in Indien oder Pakistan in einem Krankenhaus gewesen waren, in einem Fall wegen einer Schönheits-OP, in einem anderen wegen einer Dialyse.
Brutstätte Indien
Im August 2010 macht sich Tim Walsh, Professor für Infektionsmedizin an der Universität von Cardiff, gemeinsam mit schwedischen Kollegen nach Indien, Bangladesch und Pakistan auf, um nach den Ursprüngen des neuen Resistenzgens zu suchen. Und sie werden reichlich fündig: In Chennai, Haryana und weiteren Orten identifizieren sie insgesamt 143 Bakterien-Isolate mit NDM-1. Auch hier erweisen sich die meist zu den Arten Escherichia coli und Klebsiella pneumoniae gehörenden Erreger als hochgradig resistent gegen alle Antibiotika außer Tigecyclin und Colistin.
Nachdem die Forscher ihre Ergebnisse publizieren, reagieren zahlreiche indische Ärzte und Politiker mit heftigen Protesten. Sie kritisieren die in ihren Augen diskriminierende Benennung des Enzyms als „Neu-Delhi-Metallo-Beta-Lactamase“ und wehren sich gegen eine Darstellung Indiens als „Brutstätte des Super-Keims“. Doch der Verdacht auf einen indischen Ursprung von NDM-1 erhärtet sich.
Nur wenige Tage später berichten auch indische Forscher im „Journal of the Association of Physicians of India“ (JAPI) über ein geballtes Auftreten von NDM-1. In ihrer Studie hatten sie gezielt Patienten des Hinduja National Hospital in Mumbai auf resistente Stämme mit dem Carbapenem-zerstörenden Enzym untersucht. Das Ergebnis ist erschreckend: Innerhalb von nur drei Monaten finden die Wissenschaftler 22 Isolate mit NDM-1 produzierenden Enterobacter-Erregern.
„Das ist ein echter Augenöffner, wie tief wir im Problem stecken“, erklärt Abdul Ghafur, Experte für Infektionskrankheiten und klinische Mykologie in einem Editorial der Fachzeitschrift. „Wenn ein einziges Hospital eine so signifikante Anzahl von Bakterien mit dem neuen Resistenzgen in einer so kurzen Zeitperiode isolieren kann, dann wären die Daten aller indischen Krankenhäuser potenziell interessanter und schockierender als die des Human-Genom-Projekt, das immerhin als bedeutender als die Mondlandung galt.“
Unreflektierter Antibiotika-Einsatz
Im Gegensatz zu vielen seiner Landsleute sieht Ghafur die Entwicklung und Ausbreitung von Resistenzen in Indien keineswegs als Zufall oder Schicksal, sondern als direkte Folge der gängigen ärztlichen Praxis im Land. So gibt es keinerlei Beschränkungen oder Richtlinien für den Antibiotika-Einsatz bei bestimmten Erkrankungen, selbst Apotheker dürfen die Mittel ausgeben. „Wenn ein Patient dann in ein Spezialkrankenhaus eingewiesen wird, hat er bereits viele andere Krankenhäuser und Arztbesuche hinter sich und schon multiple Behandlungen mit verschiedensten Antibiotika erhalten“, so Ghafur. „Diese Patienten sind wortwörtlich wandelnde Kulturgefäße für Super-Keime und man muss nicht Nostradamus sein, um die klinischen Folgen vorherzusagen.“
Ende der antibiotischen Ära?
Für den Infektiologen läutet die gegenwärtige Ausbreitung von NDM-1 im Pool der ohnehin schon multiresistenten Keime das Ende der antibiotischen Ära ein – zumindest für die Gruppe der gramnegativen Bakterien. „Es gibt einen dramatischen Anstieg in der Verbreitung der Super-Keime und einen ebenfalls dramatischen Abfall in der Anzahl der verfügbaren neuen Antibiotika“, so Ghafur. „Die Pipeline der Antibiotikaforschung und -entwicklung ist dagegen nahezu trocken. Was wir auch immer einst für Waffen in Form von Antibiotika hatten – wir haben sie nun selbst ruiniert.“
Ähnlich sieht es auch sein britischer Kollege Walsh: „Das schnelle Auftauchen dieser multiresistenten NDM-1 produzierenden Bakterien und ihre potenziell weltweite Ausbreitung könnte eine Ära einläuten, in der Antibiotika redundant werden. Die Lage erfordert sehr enge internationale Überwachung und Beobachtung.“ Inzwischen wird NDM-1 auch aus den USA, Kanada und einigen europäischen Ländern gemeldet, in Belgien starb noch im August 2010 ein erster Patient an einer auch durch Colistin nicht mehr beherrschbaren Infektion durch multiresistente NDM-1-Keime. In Deutschland sind dem Überwachungssystem des Robert-Koch-Instituts (RKI) bisher vier Fälle von NDM-1-Resistenzen ins Netz gegangen.
Nadja Podbregar
Stand: 17.09.2010