Die Entdeckung der drei Neutrino-Geschmäcker im Jahr 2001 sorgt noch aus einem anderen Grund für Aufregung: Denn sie wirft das bisherigen Standardmodell der Teilchenphysik völlig über den Haufen. Denn nach diesem dürften die Neutrinos eigentlich keine Masse besitzen. Die wechselnden Identitäten der Geisterteilchen erfordern jedoch zumindest eine geringe Masse. Aber warum?
Das Prinzip der Neutrino-Geschmäcker lässt sich ein wenig mit einem Lichtstrahl vergleichen, der aus Licht unterschiedlicher Wellenlängen zusammengesetzt ist. Sind alle Wellenlängen auf bestimmte Weise ausbalanciert, erscheint dieses Licht weiß – ohne Farbe. Verschiebt sich jedoch der Anteil nur einer Wellenlänge – beispielsweise weil das Licht durch die Atmosphäre strahlt, dann verändert sich die Färbung des Lichts – es erscheint nun rötlich oder bläulich.
Massenmischung löst Identitätswechsel aus
Und was für das Licht die Wellenlängen, ist für die Neutrinos ihre Masse. Denn letztlich handelt es sich auch bei den drei Geschmäckern noch immer um einen Teilchentyp – alles sind Neutrinos. Ihre Merkmale sind daher bis auf ihre Masse gleich. Im Gegensatz zu anderen Teilchen, wie beispielsweise einem Neutron oder einem Elektron, hat ein Neutrino dabei aber nicht einfach eine definierte, immer gleichbleibende Masse. Stattdessen ist jedes Neutrino eine Mischung aus drei verschiedenen Massen – schwer vorstellbar, aber physikalisch möglich. Im Laufe der Zeit verändert sich der Anteil dieser Massen und dies löst, so die Theorie der Physiker, den Wechsel der Identitäten beim Neutrino aus.
Dabei kann man sich die drei Massen als drei senkrecht aufeinander stehende Achsen vorstellen, die Flavours bilden drei Vektoren, die aber nicht genau an diesen Achsen ausgerichtet sind. Ein Elektron-Neutrino hat daher nicht einfach eine der drei Massen, sondern sein Vektor verläuft in einem bestimmten Winkel zu den Massenachsen. Bis vor kurzem waren nur zwei dieser Mischungswinkel, Theta 12 und Theta 23, bekannt. Ob der dritte möglicherweise gleich Null ist, blieb strittig.
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Antineutrinos enthüllen dritten Mischungswinkel
Anfang 2012 gelingt dem Daya Bay Reactor Neutrino Experiment in China dann der entscheidende Durchbruch. Das rund 55 Kilometer von der Großstadt Hongkong entfernte Experiment nutzt, wie viele Neutrinoobservatorien, nahe gelegene Atomreaktoren als Antineutrinoquellen. Die beiden Kernkraftwerke Daya Bay und Ling Ao produzieren Trillionen von Antineutrinos pro Sekunde. Ein Teil dieser Teilchen wird von den sechs großen flüssigkeitsgefüllten Zylindern des Neutrino-Experiments aufgefangen, die an zwei Orten in der Nähe der Reaktoren im Untergrund vergraben sind. Einer liegt 400 Meter vom nächstgelegenen Reaktor entfernt, ein zweiter 1.600 Meter.
Alle Detektoren des Daya Bay Observatoriums registrieren nur Elektron-Antineutrinos, die beiden anderen Flavours sind für sie unsichtbar. Da in den Kernreaktoren ebenfalls nur Elektron-Antineutrinos entstehen, müssten die Observatorien eigentlich beide die gleiche Zahl von typischen Lichtsignalen in den Tanks registrieren – wenn da nicht die Oszillation wäre. Je länger der Flugweg, desto mehr Elektron-Neutrinos verändern ihre Identität und wandeln sich in Myon oder Tau-Neutrinos um.
Es ist daher nur wenig überraschend, dass die Physiker im entfernteren Detektor weniger Elektron-Neutrinos als im näher gelegenen. „Was wir aber nicht erwartet haben, ist die große Menge der verschwindenden Neutrinos, sie entspricht etwa sechs Prozent“, erklärt Kam-Biu Luk vom Lawrence Berkeley National Laboratory, der Sprecher des internationalen Daya Bay Experiments. Für die in Reaktoren entstehenden Antineutrinos sei dies eine Neuheit. Und es ist zudem noch eine Neuheit, die endlich Auskunft über Theta 13, den noch fehlenden Mischungswinkel der Neutrinos gibt. Denn aus ihren Messdaten können die Forscher einen Wert von 8,8 Grad ermitteln. Damit sind nun erstmals alle drei Kennzahlen bekannt, die darüber entscheiden, welche Identität ein Neutrino annimmt.
Nadja Podbregar
Stand: 11.05.2012