Die Himmelsscheibe von Nebra ist aber möglicherweise nicht das einzige Zeugnis dafür, dass die Mitteleuropäer der Bronzezeit schon einen kombinierten Sonnen- und Mondkalender kannten und nutzten. Indizien könnte auch der Sonnenwagen von Trundholm liefern, ein 1902 in Dänemark entdecktes bronzezeitliches Kunstwerk.
Die Reise der Sonne
Der um 1400 vor Christus geschaffene Wagen besteht aus einer aufrechten, auf einer Seite mit Gold verzierten Scheibe, die auf einer Art Wagen steht und von einer Pferdefigur gezogen wird. Auf beiden Seiten der rund 25 Zentimeter großen Scheibe finden sich konzentrisch angeordnete Ringe aus Spiralen und Kreisen.
Es liegt nahe, dass dieser Sonnenwagen vor allem religiöse und kultische Bedeutung hatte, denn in vielen alten Kulturen findet man Darstellungen ähnlicher Sonnenwagen. Sie symbolisieren die Reise der Sonne über den Tagehimmel. Dafür spricht auch die Ausrichtung von Pferd und Wagen: Betrachtet man den Sonnenwagen von der goldenen Tagseite aus, läuft das Pferd nach rechts – wie die Sonne am Himmel von Osten nach Westen wandert.
Ein astronomischer Abzählkalender?
Aber der Sonnenwagen von Trundholm könnte noch eine tiefere und ganz praktische Bedeutung für seine Erschaffer gehabt haben. Der Schlüssel dazu verbirgt sich in der Anordnung der Ornamente auf der Sonnenscheibe. Nach Ansicht einiger Forscher könnten diese Spiralen und Kreise den Menschen der Bronzezeit als eine Art Abzählkalender gedient haben – wie genau, darüber herrscht allerdings keine Einigkeit.
Klaus Randsborg von der Universität Kopenhagen sieht in den Spiralen der Nachtseite eine Abzählhilfe für das Mondjahr. Addiert man die Anzahl der Spiralen in jedem Ring der Scheibe und multipliziert man sie mit der Nummer des Rings, in dem sie sitzen, dann ergibt dies 177, wie er vorrechnet. 177 Tage entsprechen sechs Mondmonaten und damit einem halben Mondjahr.
Spiralen als Tage und Wochen?
Eine Referenz zum Sonnenjahr meint dagegen Amelia Sparavigna vom Polytechnikum Turin im Muster der Nachtseite zu erkennen: „Im inneren Teil der Scheibe haben wir acht Symbole, die für Tage stehen und eine Woche markieren könnten“, so die Forscherin. Kalender mit Acht-Tages-Wochen finden sich auch bei den alten Etruskern und eine Zeitlang sogar bei den Römern.
In den beiden äußeren Ringen stehen 45 Spiralen, die Sparavigna als Symbole für die Wochen sieht. Multipliziert man nun beide Werte, dann erhält man 360 Tage – ungefähr die Länge eines Sonnenjahres. Die Kreismitte könnte dann für die fünf fehlenden Tage stehen, eine Art Schaltperiode.
Oder sogar ein Kalender für Mondfinsternisse?
Noch komplizierter ist die Interpretation von Ralph Hansen vom Planetarium Hamburg. Er sieht in den Symbolen des Sonnenwagens sogar einen Kalender, mit dem sich Mondfinsternisse abzählen ließen. In Mesopotamien und im alten China hatten Gelehrte schon früh erkannt, dass sich das Muster der Mondfinsternisse alle 18 Jahre und zehn Tage wiederholt. Dieser Saros-Zyklus kann daher dazu genutzt werden, die Zeiten kommender Finsternisse vorherzusagen. Ob aber auch die schriftlose Kultur der bronzezeitlichen Mittel- und Nordeuropäer solche Erkenntnisse hatte, ist unklar.
Welche Funktion der Sonnenwagen von Trundholm tatsächlich hatte und ob er wirklich als Kalender diente, bleibt daher im Dunkeln. Ohne schriftliche Zeugnisse ist es schwer, das Wissen der Bronzezeit-Menschen dieser Region zu beurteilen. „Natürlich könnten die Symbole in der Scheibe auch einfach nur eine schöne Dekoration gewesen sein“, räumt Amelia Sparavigna ein. Klar ist eigentlich nur eines: Die filigranen Teile zeugen von einem hohen Stand der Metallverarbeitung und Gusstechnik – zumindest in diesem Bereich waren die bronzezeitlichen Künstler auch in Nordeuropa schon weit fortgeschritten.
Nadja Podbregar
Stand: 28.11.2014