Fast ebenso geheimnisvoll wie das Leben des Gletschermannes ist noch immer sein Tod. Klar ist eigentlich nur, dass es Mord oder zumindest Totschlag gewesen sein muss. Denn Ötzi erlitt kurz vor seinem Tod gleich mehrere schwerwiegende Verletzungen. Doch welche davon schließlich seine Todesursache war, ist bis heute nicht abschließend geklärt. Unbekannt ist auch, wer ihm diese Wunden zufügte und warum.
Pfeilschuss in den Rücken
Zunächst schien alles noch ganz klar: 2001 entdeckten Forscher auf Röntgenbildern der Eismumie etwas Sensationelles: Eingebettet in deren linken Schulterbereich war ein Fremdkörper, der sich als abgebrochene Pfeilspitze aus Feuerstein entpuppte. Ötzi wurde demnach kurz vor seinem Tod von seitlich hinten angeschossen.
Der Schuss muss den Gletschermann unerwartet getroffen haben. Denn er hatte seinerseits seine Waffen nicht parat: Seine Rückentrage und sein Bogen waren mehrere Meter sorgsam abgestellt. Möglicherweise legte er gerade eine Rast ein, als ihn der Pfeil traf. „Das sieht nicht nach einem Jagdunfall aus – eher nach dem gezielten Schuss eines erfahrenen Jägers“, meint der Archäologe Patrick Hunt von der Stanford University.
Wie spätere Analysen ergaben, schlug der Pfeil ein Loch in Ötzis linkes Schulterblatt und verletzte die Rückwand einer großen Arterie, die unter dem Schlüsselbein verläuft. Aus dieser Aderverletzung traten wahrscheinlich relativ schnell große Mengen Blut aus. Nach Ansicht von Medizinern könnte der Gletschermann daher innerhalb weniger Minuten verblutet sein. Tod durch Pfeilschuss – Fall geklärt. So dachte man jedenfalls.
Schlag auf den Kopf
Dann jedoch entdeckten Forscher noch weitere schwere Verletzungen der Eismumie – diesmal an ihrem Kopf. Im Röntgenbild des Schädels waren zwei dunkle Stellen zu sehen, die auf ein schweres Schädel-Hirn-Trauma hindeuteten. 2013 ergab eine chemische Analyse des Hirngewebes an diesen Stellen, dass sich dort kurz vor Ötzis Tod zwei ausgedehnte Blutergüsse gebildet hatten – auch das ein Hinweis auf starke Schläge auf den Kopf.
Was aber bedeutet dies? War Ötzi vielleicht doch nicht an dem Pfeilschuss gestorben? Einem Todesszenario nach könnte es nach dem fatalen Schuss noch zu einem Nahkampf zwischen Ötzi und seinem Gegner gekommen sein. Dabei erhielt der Gletschermann einen frontalen Schlag auf den Kopf, der ihn rücklings zu Boden stürzen ließ. Sein Schädel prallte so hart auf, dass Ötzi an diesem Schädel-Hirn-Trauma starb – noch bevor er an der Pfeilwunde verblutet war.
Nachträglich umgedreht?
Wenn Ötzi jedoch auf den Rücken fiel – warum lag die Mumie mit dem Gesicht nach unten im Eis? Auch dazu gibt es ein – spekulatives – Szenario. Nach diesem rührt die unnatürliche Körperhaltung Ötzis daher, dass sein Angreifer ihn noch vor der Leichenstarre umdrehte, um ihm den Pfeil aus der Schulter zu ziehen. Dabei brach die Pfeilspitze ab.
Ein Indiz dafür könnte eine Lücke zwischen der Wand der Arterie und der Spitze des Pfeils sein. „Diese Lücke ist ein Hinweis darauf, dass der Pfeil aktiv herausgezogen wurde“, erklärt der Paläopathologe Frank Rühli von der Universität Zürich. Ob sich dies jedoch tatsächlich so abspielte, bleibt bis heute reine Spekulation.
Woran der Gletschermann letztlich starb, bleibt strittig. Ungeklärt ist auch das Motiv dieses Mordes. War Ötzi ein Clanführer, den ein Rivale um die Macht umbrachte? Oder war es ein Mord aus persönlichen Gründen? Die Machart der Pfeilspitze legt zumindest nahe, dass auch Ötzis Angreifer von der Südseite der Alpen kam. Täter und Opfer könnten sich daher durchaus gekannt haben.
Doch wer der Täter war und warum er tötete, bleibt rätselhaft. Der Tod von Ötzi ist damit wahrscheinlich einer der ältesten ungelösten Mordfälle der Geschichte.
Nadja Podbregar
Stand: 16.09.2016