In ihrer zweiten Lebenshälfte war Hildegard von Bingen durch ihre Schriften und Predigten über ihre „Visionen“ weit über die Mauern ihres Klosters Rupertsberg bekannt. Viele Menschen – wohlhabende wie normale Bürger – kamen daher zu ihr, um sie um geistlichen Rat und weltliche Hilfe zu bitten.

Mit einflussreichen Persönlichkeiten aus Politik und Kirche schrieb sie zudem Briefe, von denen etwa 300 erhalten sind – wenn auch teils in erkennbar veränderter Abschrift. Unter den Korrespondenten sind Herzöge, Könige und Kaiser sowie Äbte, Äbtissinnen, Priester, Erzbischöfe und Päpste. Für die damalige Zeit war dies für eine Frau äußerst ungewöhnlich. „Hildegard nutzte dieses Medium virtuos“, sagt Matthias Schmandt, Leiter des Museums am Strom in Bingen. „Weil Briefe häufig vor ihren Empfängern öffentlich verlesen wurden, waren sie auch ein geeignetes Medium, um prophetische Botschaften weiträumig zu verbreiten.“
Gut vernetzte Politikerin …
In den Briefen gibt sich Hildegard keineswegs unterwürfig, sondern ermahnt und berät forsch auch die mächtigsten Personen an Hof und Klerus. In einer historisch turbulenten Zeit der politischen Machtkämpfe und christlichen Kreuzzüge mahnte Hildegard die Einflussreichen zu „gottgefälligem“ und „gerechtem“ Verhalten, auf dass sie „Friedenskaiser“ werden oder mit der Menschheit beim nahen Weltende untergehen, wie sie es in ihren Visionen sah.
Mit dieser Rhetorik, die im Christentum damals von Seherinnen, sogenannten Sibyllen, bekannt war, spornte Hildegard die Könige durchaus zu Feldzügen und zur Missionierung an. Im Gewand der göttlichen Vorankündigung des Todes sprach Hildegard jedoch in ihren Briefen nicht nur im Sinne der christlichen Kreuzzüge, sondern auch im welt- und regionalpolitischen Eigeninteresse ihrer Verwandten und befreundeten Familien, wie Schmandt berichtet.