Forscher / Entdecker

Äbtissin mit politischem Gespür

Wie weit reichte das Netzwerk der Hildegard von Bingen?

In ihrer zweiten Lebenshälfte war Hildegard von Bingen durch ihre Schriften und Predigten über ihre „Visionen“ weit über die Mauern ihres Klosters Rupertsberg bekannt. Viele Menschen – wohlhabende wie normale Bürger – kamen daher zu ihr, um sie um geistlichen Rat und weltliche Hilfe zu bitten.

Abschrift der Briefe der Hildegard von Bingen an Kaiser Barbarossa
Abschrift der Briefe der Hildegard von Bingen an Kaiser Barbarossa. Etwa 300 Briefe an hochrangige Persönlichkeiten sind von ihr erhalten. © Wuselig/CC-by 1.0

Mit einflussreichen Persönlichkeiten aus Politik und Kirche schrieb sie zudem Briefe, von denen etwa 300 erhalten sind – wenn auch teils in erkennbar veränderter Abschrift. Unter den Korrespondenten sind Herzöge, Könige und Kaiser sowie Äbte, Äbtissinnen, Priester, Erzbischöfe und Päpste. Für die damalige Zeit war dies für eine Frau äußerst ungewöhnlich. „Hildegard nutzte dieses Medium virtuos“, sagt Matthias Schmandt, Leiter des Museums am Strom in Bingen. „Weil Briefe häufig vor ihren Empfängern öffentlich verlesen wurden, waren sie auch ein geeignetes Medium, um prophetische Botschaften weiträumig zu verbreiten.“

Gut vernetzte Politikerin …

In den Briefen gibt sich Hildegard keineswegs unterwürfig, sondern ermahnt und berät forsch auch die mächtigsten Personen an Hof und Klerus. In einer historisch turbulenten Zeit der politischen Machtkämpfe und christlichen Kreuzzüge mahnte Hildegard die Einflussreichen zu „gottgefälligem“ und „gerechtem“ Verhalten, auf dass sie „Friedenskaiser“ werden oder mit der Menschheit beim nahen Weltende untergehen, wie sie es in ihren Visionen sah.

Mit dieser Rhetorik, die im Christentum damals von Seherinnen, sogenannten Sibyllen, bekannt war, spornte Hildegard die Könige durchaus zu Feldzügen und zur Missionierung an. Im Gewand der göttlichen Vorankündigung des Todes sprach Hildegard jedoch in ihren Briefen nicht nur im Sinne der christlichen Kreuzzüge, sondern auch im welt- und regionalpolitischen Eigeninteresse ihrer Verwandten und befreundeten Familien, wie Schmandt berichtet.

… mit eigenen Interessen

Um ihre persönlichen Interessen durchzusetzen, legte sich Hildegard auch immer wieder mit Gegnern an und nutzte dabei ihre Beliebtheit und ihre Kontakte. Beispielsweise erpresste sie den Abt vom Disibodenberg, sie gehen zu lassen, indem sie behauptete, Gott habe ihr verboten, dort weiterhin ihre berühmten Visionen kundzutun. Anschließend erkämpfte sich Hildegard gegen den Willen des Abtes eine Erstausstattung für ihr neu gegründetes Kloster bei Bingen und ließ sich von Kaiser Barbarossa im Jahr 1158 einen Schutzbrief für dieses ausstellen.

Altarbild in der Rochuskapelle in Bingen zeigt eine Darstellung von Hildegard von Bingen
Altarbild in der Rochuskapelle in Bingen zeigt eine Darstellung von Hildegard von Bingen. Berühmt wurde sie letztlich dank ihrer Kontakte und durch die Erhebung von der Visionärin zur Prophetin durch den Papst. © RomkeHoekstra/CC-by 4.0

Im Alltag widersetzte sich Hildegard teils den strengen religiösen Regeln und interpretierte die klösterlichen Gebote eher pragmatisch. „Sie wählte wann immer möglich die media vita, den goldenen Mittelweg“, sagt der Historiker Ralf Lützelschwab. Hildegard lockerte Berichten zufolge beispielsweise in ihrem Kloster die Fastenregeln und das Armutsgebot. Das war für sie auch wirtschaftlich von Vorteil, denn dort nahm sie generell nur adelige Nonnen auf und pflegte einen eher gehobenen als asketischen Standard.

Ein Star des Mittelalters

Berühmt wurde Hildegard von Bingen letztlich dank ihrer Kontakte und durch ihre Erhebung zur Prophetin durch den Papst. Hilfreich war bei diesem Aufstieg sicher auch, dass mehrere ihrer Familienmitglieder hohe Ämter innehatten. Zwei ihrer Brüder waren beispielsweise Geistliche im Mainzer Dom und im Kloster Tholey, ein Neffe sogar Bischof in Trier.

Hildegard ist damit auch als politisch aktive Frau ihrer Zeit zu verstehen, die ihr Netzwerk zu ihren Zwecken nutzte. Ohne das „Vitamin B“ ihrer adeligen Herkunft und ihrer familiären Beziehungen wäre ihr Standing in der Kirche und auf der Weltbühne möglicherweise nie zustande gekommen.

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Hildegard von Bingen – Visionärin des Mittelalters
Wer war die berühmte Nonne und Gelehrte vom Rhein?

Die Nonne, die zur Heiligen wurde
Ein Leben im Dienst der Kirche

Äbtissin mit politischem Gespür
Wie weit reichte das Netzwerk der Hildegard von Bingen?

Das Erbe der „Hildegard-Medizin“
Wissenschaftlerin, Naturheilerin oder Kräuterhexe?

Hildegard, die Dichterin und Komponistin
Kirchenlieder mit ungewöhnlichen Noten

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