Eigentlich helfen sie ja gegen so ziemlich alles, die wildwachsenden Mikroblaualgen mit dem wohlklingenden Namen Aphanizomenon flos-aquae, kurz Afa-Algen. Wie alle Algenpräparate sind sie natürlich gut fürs Immunsystem und die Entschlackung des Körpers. Sie sollen Herpes, Grippe, Asthma, Depressionen und sogar Krebs und Alzheimer heilen – die Liste könnte unendlich fortgeführt werden. Die größte Auseinandersetzung ist jedoch darüber entbrannt, ob Afa-Algen ein geeignetes Mittel gegen das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS) ist.
ADS, häufig in Verbindung mit Hyperaktivität, wird heute bei immer mehr Kindern diagnostiziert. Sie leiden unter Konzentrationsschwäche, können Informationen schlecht verarbeiten und behalten, reagieren oft aggressiv oder sind lethargisch. Es handelt sich hierbei nicht etwa um Erziehungsprobleme, sondern um eine neurophysiologische Störung. Die Botenstoffe des Gehirns, die die Informationen verarbeiten, funktionieren bei ADS-Patienten nicht richtig, so dass die Reize von außen ungefiltert einströmen. Neben einer Verhaltenstherapie behandeln Ärzte stärkere Fälle von ADS mit dem Medikament Ritalin. Ritalin gehört zur Gruppe der Amphetamine und damit zu den Psychopharmaka. Das Medikament wirkt im Gehirn aufmerksamkeitssteigernd, indem es den Botenstoff Dopamin länger zwischen den Nervenzellen hält, Wahrnehmungen und Empfindungen können besser geordnet werden.
Die Meinungen über Ritalin gehen weit auseinander. Von untragbaren Nebenwirkungen, fehlenden Langzeitstudien bei Kindern und Suchtgefahr spricht die Contra-Fraktion – kaum Nebenwirkungen, langzeiterprobte Wirksamkeit und keinen einzigen Suchtfall bei therapeutischer Verabreichung sehen die Vertreter der Pro-Fraktion. Die „Contras“ werfen den „Pros“ Bestechung durch Pharmakonzerne und Profitgier vor, und umgekehrt halten diese von der Quacksalberei und Geldmacherei der anderen gar nichts. Geldinteressen sind sicher beiden Seiten zu unterstellen und die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen. Viele Ritalin-Gegener sehen in jedem Fall in den Afa-Algen eine natürliche und weitaus weniger gefährliche Alternative zur Behandlung von ADS.
Giftige Afa-Algen
Ob Afa-Algen nun wirklich gegen das Zappelphilippsyndrom helfen, ist umstritten. Sicher ist jedoch, das die Präparate aus Afa-Algen häufig mit Giftstoffen belastet sind. So sehr sich die Hersteller von Afa-Algen dagegen sträuben: Untersuchungen aus Deutschland, Kanada und den USA belegen dies. Cyanobakterien wie die Afa-Alge können starke Gifte produzieren, die Nerven und Leber schädigen. In der Online-Giftpflanzendatenbank des Instituts für Veterinärpharmakologie und -toxikologie der Uni Zürich ist Aphanizomenon flos-aquae mit dem Vermerk „stark giftig“ zu finden, denn verschiedene Stämme dieser Art bilden nervenschädigende Toxine. Zudem können durch die Verunreinigung mit anderen Cyanobakterien giftige Microcystine enthalten sein, die die Leber angreifen.
Microcystine wurden 1996 bei einer Untersuchung von Cyanobakterien aus dem Upper Klamath Lake im US-Bundesstaat Oregon – die Afa-Algen im Handel stammen alle aus diesem See – in 85 von 87 Proben entdeckt. In einem deutschen Labor fand man in 12 von 14 Proben Microcystine, die Konzentrationen lagen zwischen 68 und 134 Mikrogramm pro Kilogramm. Es existiert zwar in Deutschland noch kein Grenzwert für Microcystine in Nahrungsmitteln, die WHO hat jedoch für Trinkwasser eine Empfehlung von einem Mikrogramm pro Liter gegeben. Vergiftungssymptome wie Durchfall, Erbrechen oder Übelkeit werden von den Algen-Befürwortern oft als vorübergehende „Entgiftungserscheinungen“ bagatellisiert.
Das Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin (BgVV) und das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) warnen, dass es, mal ganz abgesehen von den toxischen Beimischungen, für die medizinische Wirkung der Blaualgen keine wissenschaftlichen Belege gibt. Eigenmächtig lebenswichtige Medikamente abzusetzen und statt dessen auf die Heilkraft der Algen zu vertrauen kann also im Zweifelsfall ganz schön ins Auge gehen.
Natürlich sollte man nicht unkritisch und vor allen Dingen nicht grundlos seinem Kind Ritalin verabreichen. Aber eine Eigentherapie mit Algenpräparaten kann unter Umständen mehr schaden als helfen – gerade bei Kindern, die ja auf Giftstoffe viel empfindlicher reagieren. Genauso, wie die Befürworter der Afa-Algen den Vorwurf erheben, es gebe bislang keine Langzeitstudien bezüglich der Nebenwirkungen von Ritalin bei Kindern, kann man gegen sie selbst aber auch den Vorwurf erheben, dass es keine gesicherten medizinischen Studien über die Anwendung der Afa-Algen für ADS gibt. Und die Gleichung „Natur = Gut“ geht nun mal nicht immer auf.
Stand: 06.11.2002