Als der erste Quastenflosser sich mühsam ein Stück aus dem Wasser schleppte, war das Land schon nicht mehr unbesiedelt. Die Flechten waren schon da. Auch heute noch sind Flechten immer die ersten, wenn es darum geht, neu entstandene Lebensräume zu erschließen. Nach einer Überflutung, einem Vulkanausbruch oder dem Zurückweichen eines Gletschers sind Flechten oft die einzigen vielzelligen Lebewesen, die in der Lage sind, unter extremen Bedingungen auf kahlen Felsen zu überleben.
Wunderwerk Flechte
Diese Pionierleistungen könnten Flechten nicht erbringen, wenn es sich nicht um eine Symbiose handelte – eine Symbiose aus Pilzen und Algen. Dabei besitzen Flechten Fähigkeiten, welche nur die Gemeinschaft besitzt, nicht aber die Alge oder der Pilz allein. Auf felsigem Untergrund etwa fehlt das organische Substrat für Pilzwachstum, für Algen wäre die Gefahr der Austrocknung zu hoch. Flechten dagegen besiedeln selbst diese unwirtlichen, konkurrenzarmen Lebensräume, wo sie von nichts anderem als der Luft zu leben scheinen. Für diese Beziehung mag demnach der klassische Satz aus der Systemtheorie gelten: Ein System ist mehr als die Summe ihrer Teile.
Flechten sind nicht nur entscheidend bei der Primärbesiedelung von Standorten, sie spielen auch eine wichtige Rolle bei der Verwitterung der Gesteine. Von Flechten produzierte Säuren greifen den Untergrund an, Pilzhyphen dringen in feinste Risse, der Fels erodiert langsam. Mit der Zeit sammelt sich organisches Material an, Erde und abgestorbene Flechten. Auf diesem humusreichen Substrat können dann höhere Pflanzen ansiedeln.
Superorganismus
Wie aber schaffen Flechten all das? Wie entsteht aus Pilzen und Algen ein solcher „Superorganismus“? Vielleicht liegt die Besonderheit dieser Beziehung darin, dass sich zwei sehr unterschiedliche Partner zusammengetan haben. Die Alge (Grünalge oder Cyanobakterium) übernimmt dabei die Versorgung mit organischen Verbindungen durch Photosynthese. Die gebildeten Kohlenhydrate werden zu einem großen Teil an den Pilz abgegeben. Handelt es sich bei den Symbionten um Cyanobakterien, so fixieren diese zusätzlich noch Stickstoff aus der Luft. Im Gegenzug schützt der Pilz die Algen vor zu hoher UV-Strahlung, bildet giftige Verbindungen als Fraßschutz, absorbiert Mineralstoffe und sorgt für die Aufnahme und Speicherung von Wasser.
So harmonisch das Zusammenleben beider Partner auch scheinen mag, einige Wissenschaftler sind der Auffassung, dass es sich bei der Beziehung eher um eine Art Versklavung als um ein friedliches Miteinander handelt. Für diesen „kontrollierten Parasitismus“, die Ausbeutung der Algenzellen durch das Pilzmycel, sprechen einige Hinweise. So ist etwa nur der Pilz zur sexuellen Reproduktion befähigt. Die Algen, die eher die Rolle von Nutzpflanzen zu spielen scheinen, vermehren sich rein vegetativ.
Ein weiterer Hinweis ist die Abgabe von Kohlenhydraten an die umgebenden Pilzzellen. Die Zellen der Alge Trebouxia sezernieren zwar auch in freilebender Form Kohlenhydrate, jedoch macht dieser Anteil nur etwa acht Prozent der Photosyntheseprodukte aus. In Symbiose mit dem Pilz dagegen werden 40 prozent nach außen abgeführt. Fest steht auch, dass der Algenpartner zwar durchweg auch ohne den Symbionten überleben kann, das Pilzmycel dagegen ist ohne Symbiose zur Alge in der Regel nicht lebensfähig. Vielleicht hat das Ergreifen der Alge durch die auskeimende Pilzspore daher tatsächlich den Charakter einer „gewaltsamen Aneignung“.
Stand: 22.04.2000