Sicher, Primaten leben in sozialen Verbänden, hochentwickelte Insekten auch, aber Einzeller? Es klingt seltsam, aber der Schleimpilz Dictyostelium discoideum ist mit seinem ungewöhnlichen Lebenszyklus das beste Beispiel für die Fähigkeiten einzelliger Lebewesen.
Normalerweise kriechen die einzelligen Dictyostelium-Amöben als Einzelgänger langsam durch den Boden. Auf der Suche nach fressbaren Bodenbakterien strecken sie ihre Scheinfüßchen aus und ziehen sich vorwärts. Pro Minute kommen sie so etwa zehn Mikrometer voran – das entspricht in etwa ihrem eigenen Zelldurchmesser. Für einen Millimeter brauchen sie auf diese Weise mehr als anderthalb Stunden. Von einer Zellteilung bis zur nächsten vertilgt eine Amöbe bei ihrer gemächlichen Wanderung rund tausend Mikroben.
Nahrungsmangel macht gesellig
Wird im Umkreis der Amöbe die Nahrung knapp, beispielsweise weil zu viele Artgenossen auf engem Raum leben, beginnt eine faszinierende Verwandlung. Einzelne Amöben gaben dann einen bestimmten Signalstoff, das sogenannte zyklische Adenosin-Monophosphat (cAMP) an ihre Umwelt ab. Ihre Artgenossen reagieren prompt darauf: Sie folgen dem Konzentrationsgefälle dieses Stoffes im Boden und bewegen sich in die Richtung, aus der das Signal kommt. Allmählich bildet sich dabei um die ursprünglichen Aussender des Signalstoffs ein Netz aus immer weiter verästelten Amöbenstraßen.
Haben sich 50.000 bis 100.000 Einzeltiere angesammelt, schließen sie sich eng zusammen und bilden einen etwa zwei Millimeter langen, wurstähnlichen Klumpen, das sogenannte Pseudoplasmodium. Bis zu 400 Zellen pro Quadratmillimeter drängen sich darin. Die Enge und chemische Wechselwirkungen sorgen nun dafür, dass sich die Genaktivität bei den Zellen verändert: Einige sammeln sich im vorderen Teil der Zellwurst, andere werden zu Vorläufern späterer Sporen, Vermehrungs- und Überdauerungsstadien.
Von der Zellwurst zum Sporenpilz
Wie eine Nacktschnecke kann diese Wurst aus einzelnen Zellen auch vorwärts kriechen. Ähnlich wie ein vielzelliger Organismus reagiert sie auf Lichtreize, chemische Signale und Veränderungen der Temperatur. Wenn sich auch auf diese Weise keine neue Nahrungsquelle finden lässt, findet eine weitere Zelldifferenzierung statt. Die Zellen im vorderen Teil beginnen nun, sich so anzuordnen, dass sie eine senkrecht stehende Röhre bilden. Dabei schwellen sie an und sterben nach und nach ab. Die hinteren Zellen bewegen sich an dieser Röhre in die Höhe. Wie ein Pilz bilden sie einen rundlichen „Hut“ auf dem Stiel. Dort umgeben sie sich mit einer schützenden Schleimhülle und reifen zu Sporen heran. Auf diese Weise wächst ein Schleimpilz, der aus einem Stiel und dem mit Sporen gefüllten Fruchtkörper besteht.
Obwohl nicht jede einzelne Amöbenzelle dieses Umwandlung überlebt, bedeutet sie doch für die Amöbenart als Ganzes einen erheblichen Vorteil: Denn die auf dem Stiel stehenden Sporen können nun mit dem Wind oder durch vorbeistreifende Tiere mitgenommen und in neue, nahrungsreichere Gebiete getragen werden. Aus den Sporen bildet sich dort dann wieder eine Amöbe, die auf sich allein gestellt im Boden weiterlebt – bis zur nächsten Hungersnot.
Nadja Podbregar / Kerstin Fels
Stand: 30.08.2013