Die Frage, ob die sinnliche Wahrnehmung uns die Realität der Welt vermittelt oder doch eher eine Illusion, geht zurück bis zu den Vorsokratikern. „Farbe gibt es nur der herkömmlichen Meinung nach, und ebenso Süß und Bitter. In Wirklichkeit gibt es nur die Atome und das Leere“, so postulierte bereits Demokrit.
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„Geruchs- und geschmacklose Stille
Die gleiche Kritik der alltäglichen Wahrnehmung findet sich heute wieder in Neurowissenschaften und Neurophilosophie. So behauptet etwa der amerikanische Neurowissenschaftler David Eagleman: „…die Welt um Sie herum, mit ihren reichen Farben, Texturen, Klängen und Düften ist eine Illusion, eine Show, die Ihr Gehirn Ihnen vorführt. Wenn Sie die Realität wahrnehmen könnten, wie sie wirklich ist, wären Sie schockiert von ihrer farb-, geruchs- und geschmacklosen Stille.“
Ähnlich äußert sich der Neurophilosoph Thomas Metzinger: „Das zarte aprikosenfarbene Rosa der untergehenden Sonne ist keine Eigenschaft des Abendhimmels; es ist eine Eigenschaft des inneren Modells des Abendhimmels, das durch unser Gehirn erzeugt wird. Es ist alles genau so, wie es uns schon der Physiklehrer in der Schule gesagt hat: Da draußen, vor Ihren Augen, gibt es nur einen Ozean aus elektromagnetischer Strahlung.“
Nur eine Täuschung…
Die sinnliche Erfahrung ist aus dieser neurokonstruktivistischen Sicht nur ein „Phenospace“, ein Illusionsraum, den das Gehirn für uns mit Farben und Klängen ausstaffiert. Unsere Überzeugung, in einer farbigen Welt zu leben, beruht demnach nur auf einer Täuschung, einem „naiven Realismus“. Diese Unterminierung der lebensweltlichen Erfahrung folgt der Logik des naturwissenschaftlichen Programms, das sich seit der Neuzeit etabliert hat.
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Es zielt auf eine Konzeption der Natur, aus der alle qualitativen, nicht messbaren Bestimmungen als bloß subjektive oder anthropomorphe Zutaten eliminiert sind. So teilt der Naturwissenschaftler etwa das Phänomen der Farbe auf in physikalische Wellenbewegungen einerseits und in eine subjektive Empfindung andererseits. Gleiches gilt für Wärme, Klang, Geruch oder Geschmack: Sie sind fortan nur noch subjektive Zutaten zur physikalisch messbaren Realität.
Energiefelder und Materiepartikel?
John Locke kanonisierte diese Auffassung im 17. Jahrhundert durch die Unterscheidung der primären und sekundären Eigenschaften: Primär oder „wirklich“ seien nur die quantitativen Kategorien (Volumen, Gestalt, Zahl und Bewegung), sekundär oder nur subjektiv alle qualitativen Eigenschaften der Objekte (Farben, Geruch, Geschmack, Klang oder Wärme). Die tatsächliche Welt wäre demnach ein eher trostloser Ort von Energiefeldern und Materiepartikeln.
Der Baum wäre eigentlich nicht grün, seine Blüten dufteten nicht, der Vogel in seinen Zweigen sänge nicht melodisch: Das alles wären nur zweckmäßige Scheinwelten, die das Gehirn anstelle nackter materiell-kinematischer Prozesse erzeugt.
Prof. Dr. Dr. Thomas Fuchs, Universität Heidelberg / Ruperto Carola
Stand: 26.01.2018