Im Prinzip scheinen sich alle Wissenschaftler darüber einig, dass sich die Bestzeiten aller Sportdisziplinen dem maximal Möglichen annähern – sei es, weil Technik und Material Fortschritte machen, sei es, weil gedopt wird oder weil Trainingsmethoden sich verbessert haben. Aber ist das wirklich in jedem Falle so? Nicht, wenn man Wissenschaftlern des Forschungszentrums Jülich glaubt. Denn sie vertreten die fast schon ketzerische Ansicht, ein Teil der Bestleistungen sei vor allem dem Zufall geschuldet.
Ihre These: Mit jeder Veranstaltung und jedem teilnehmenden Sportler erhöht sich die Zahl der Versuche, Bestleistungen zu erzielen – und nach den Gesetzen der Statistik steigt damit auch die Wahrscheinlichkeit dafür. „Wenn ein Hochleistungssportler gut vorbereitet an den Start geht, dann entscheiden über die letzten Zentimeter oder Zehntelsekunden, auf die es für eine neue Bestmarke ankommt, auch rein zufällige Einflüsse wie der Wind, die Temperatur und die Tagesform“, erklärt Daniel Gembris, Physiker am Forschungszentrum Jülich 2008 in einem Artikel in der Zeitschrift „Spektrum der Wissenschaft“.
Bestleistungen als Wahrscheinlichkeitsverteilung
Um Zufall und echten Fortschritt zu unterschieden, nahmen Gembris, Professor John G. Taylor vom King`s College in London und Professor Dieter Suter von der Universität Dortmund zunächst die Bestleistungen der Männer bei den Deutschen Meisterschaften in den Jahren 1973 bis 1996 genauer unter die Lupe. Sie testeten, inwiefern die Bestwerte der jeweiligen Disziplinen einer Gaußschen Glockenkurve und damit einer klassischen Wahrscheinlichkeitsverteilung entsprachen.
„Wir gingen bei unserer Analyse davon aus, dass die jährlichen Bestleistungen durch eine so genannte Gauß-Verteilung beschrieben werden können“, erläutert Gembris. Diese Annahme überprüften die Forscher mit einem Test, der in der Statistik verbreitet ist. Dann setzten sie die Rekorde aus zehn beziehungsweise zwölf aufeinander folgenden Jahren in eine neue, von ihnen aufgestellte Näherungsformel ein. So berechneten sie den höchsten Wert – den weitesten Wurf oder Sprung, die schnellste Geschwindigkeit beim Lauf -, der statistisch gesehen in den Folgejahren erwartet werden konnte.
Höchstleistung als Zufallsexperiment?
Das verblüffende Ergebnis: „Für die deutschen Meisterschaften zeigte sich nur in vier Fällen eine deutliche Abweichung von einer rein zufallsbedingten Entwicklung: 110-Meter-Hürdenlauf, 20 und 50 Kilometer Gehen sowie Stabhochsprung“, so Gembris. Auf internationaler Ebene ermittelten die Forscher zusätzlich bei den Laufwettbewerben über 5.000 Meter, 10.000 Meter und die Marathonstrecke echte Fortschritte, wie sich aus der Untersuchung der Weltjahresbestleistungen ergab.
Nach Ansicht der Forscher gewinnt der Zufall vor allem dann an Gewicht, wenn die Wirkung anderer Faktoren wie Training oder Ausrüstung nahezu ausgereizt ist. „Sofern es an der Technik, sagen wir des Weitsprungs, nichts Entscheidendes mehr zu verbessern gibt, kann man mit Fug und Recht unterstellen, dass eine einzelne Sprungweite das Ergebnis eines Zufallsexperiments ist“, so Gembris. Ob man dieser radikalen Sichtweise folgen mag oder nicht – viele Sportler und Trainer vertreten hier sicher eine andere Meinung als Gembris – eröffnet das mathematische Experiment zumindest eine neue, möglicherweise entspanntere Sichtweise auf die Jagd nach Rekorden.
Doping verursacht Außreißer in der Statistik
Aber noch etwas trat in der Auswertung von Gembris und Co. zutage: Auffällige Ausreißer in bestimmten Zeitperioden, die auf ungewöhnliche Leistungssteigerungen hindeuten. „Bei Rekorden, die innerhalb einer kurzen Zeitspanne deutlich über das Vorhersageintervall hinausschießen, bietet Doping eine mögliche Erklärung“, sagt Gembris. „Weiteren Aufschluss darüber erhielten wir mit einem zusätzlichen statistischen Verfahren, dem Chow-Test. Dabei teilt man eine Zeitreihe in zwei Intervalle auf und bestimmt für jedes eine Ausgleichsgerade.“ Starke Abweichungen zwischen den beiden Geraden weisen dann auf „strukturelle Brüche“ und damit Unregelmäßigkeiten hin.
Tatsächlich gab es nach diesem Verfahren Ende der 1980er Jahre in vielen Disziplinen einen deutlichen Knick in der Leistungsentwicklung, vor allem auf internationaler Ebene, aber auch bei den Deutschen Meisterschaften. Dieser entlarvende Einbruch, der sich auch in den Statistiken und Berechnungen von Einmahl und Smeets findet, lässt sich mit der Einführung eines neuen Dopingtestsystems im Jahr 1988 gut erklären. „Mathematische Methoden eignen sich demnach auch zum Aufspüren von Unregelmäßigkeiten“, so Gembris. „Denen kann dann mit chemischen Nachweisverfahren weiter nachgegangen werden.“
Stand: 13.08.2009