Die fatale Wirkung von Chemikalien tritt nach Unfällen oder Kriegen besonders drastisch zu Tage – wie beim folgenschwere Chemieunfall von Sevoso, bei dem zur Kriegsführung im Vietnam verwendeten Pestizid „Agent Orange“ oder den im Golkrieg zum Einsatz gebrachten chemischen Waffen, die im Verdacht stehen, unter den amerikanischen Veteranen zu schweren gesundheitlichen Schäden geführt zu haben.
Doch auch über die krankmachende Wirkung von wohldosierten „zivilen“ Umweltgiften ist einiges bekannt: Asbest fördert Lungenkrebs, Lösemittel wie Terpentine können Organschäden hervorrufen und dem seit 1989 verbotenen Holzschutzmittel Pentachlorphenol wird eine nervenschädigende Wirkung nachgesagt. Doch nicht nur solche Wohnraumgifte setzen dem Menschen zu. Mit Pestiziden in Obst und Gemüse, Dioxinen in Milchprodukten und Fleisch, Schwermetallen im Trinkwasser nimmt er einen täglichen Giftcocktail zu sich.
„Ganz normale“ Chemie?
Mal ganz abgesehen von diesen Umweltgiften, das alltägliche Lebensumfeld strotzt vor „ganz normaler“ Chemie: Künstliche Farb-, Geschmacks-, und Konservierungsstoffe in der Nahrung, synthetische Duftstoffe in Kleidung, Kosmetika oder Waschmitteln. So kommt der Mensch in seinem normalen Alltag mit Tausenden von Chemikalien in Kontakt. Von den wenigsten der heute weltweit über 80.000 Chemikalien ist jedoch bekannt, wie sie auf den menschlichen Organismus wirken – und jedes Jahr kommen etwa 1.500 Neue hinzu.
Die Chemikalisierung aller Lebensbereiche bleibt nicht ohne Wirkung. Höchst alarmiert machen Umweltmediziner auf den rasanten Anstieg und das Ausmaß umweltbedingter Erkrankungen aufmerksam. In Deutschland leidet bereits jeder Dritte an Allergien, chemische Substanzen gelten als wichtige Ursache. Sorgen bereitet auch die miserable Spermienqualität deutscher Männer – auch hierfür werden Umweltgifte verantwortlich gemacht.
Chronisches Müdigkeitssyndrom
Immer mehr Menschen leiden heute unter diffusen Krankheitsanzeichen wie Müdigkeit, Kopfschmerzen, Übelkeit, Schwindel oder Konzentrationsschwäche, häufig auch als „Chronisches Müdigkeitssyndrom“ bezeichnet. Neben Umweltgiften und dem Zahnfüllstoff Amalgam machen Umweltmediziner die fortschreitende Chemikalisierung aller Lebensbereiche dafür verantwortlich. Dabei wurden gerade die Gefahren, die von den „alltäglichen“ Chemikalien ausgehen, lange Zeit völlig unterschätzt.
Multiples Chemikaliensyndrom
Wie schwerwiegend solche Störungen sein können, zeigt sich auch an einer wachsenden Zahl von Menschen, die plötzliche Überempfindlichkeiten gegenüber chemischen Substanzen ausbilden. Sie leiden unter dem so genannten „Multiplen Chemikaliensyndrom“ (MCS). Die Symptome reichen hier von Kopfschmerzen und Übelkeit bis hin zu lebensbedrohlichen Schockzuständen, die mit Atemstillstand und Nierenversagen einhergehen können. Eine von der EU in Auftrag gegebene Studie zeigt, dass die Krankheit in einer besorgniserregenden Geschwindigkeit wächst. So sind MCS-Betroffene keine Seltenheit mehr, in Deutschland gibt es schätzungsweise bereits Zehntausende.
Chemieopfer oder Hypochonder?
Die gesamte Thematik besitzt eine weitreichende gesundheitspolitische Dimension, die die Ärzteschaft zunehmend in zwei Lager spaltet. Schulmediziner streiten häufig eine Erkrankung ab. Denn die Krankheitssymptome der Betroffenen lassen sich in der Regel durch die üblichen Diagnoseverfahren nicht erfassen, Blut und Urin der Patienten ergeben nur selten bedenkliche Werte.
Doch deswegen ließen sich die Beschwerden noch lange nicht als irrelevant abtun, entgegnen Umweltmediziner. Falsche oder fehlende Diagnosemethoden und der Umstand, dass es sich bei Umwelterkrankungen zumeist nicht um akute sondern um eine chronische Belastung des Organismus handle, seien der Grund für den oft mangelnden organischen Befund.
Von den Schulmedizinern oft als gewöhnliches Formtief oder vorübergehende Befindlichkeitsstörung eingeordnet, werden eine Vielzahl von Krankheitssymptomen nicht als umweltbedingte Erkrankung, sondern als psychosomatische Störung diagnostiziert.
Wer hat Recht? Machen die Umweltgifte oder nur die Angst vor ihnen krank?
Stand: 21.05.2002