Wir schreiben das Jahr 1960. Zu diesem Zeitpunkt scheint die Geschichte unserer Vorfahren noch ziemlich übersichtlich: Es gilt kaum Sackgassen oder Seitenzweige, die Evolution scheint im Laufe der letzten zwei Millionen Jahre geradezu zielstrebig vom Vormenschen zum modernen Menschen verlaufen zu sein.
Ein Missing Link wischen Affe und Mensch
An der Basis des Stammbaums steht damals der Vormensch Australopithecus africanus – der „afrikanische Südaffe“. Von seiner Existenz zeugen Fossilien, die bereits in den 1920er Jahren in Südafrika entdeckt worden waren. Das berühmteste von ihnen ist das „Kind von Taung“ – der ungewöhnlich gut erhaltene Schädel eines mehr als zwei Millionen Jahre alten menschenähnlichen Kindes.
Als Raymond Dart, Anatom an der University of the Witwatersrand in Johannesburg, den Schädel des „Kind von Taung“ untersuchte, erkannte er sofort, dass das Fossil zwar ein affenähnliches Gesicht besaß, sein Gehirn und die Bezahnung jedoch menschenähnlich waren. Auch das mit rund 405 Kubikzentimetern ziemlich kleine Gehirn wich in seiner Form deutlich von dem der Menschenaffen ab. Für Dart war klar: Es musste sich um einen Menschenvorfahren handeln – möglicherweise das lange gesuchte Missing Link zwischen Affen und Mensch. In jedem Falle war das Kind von Taung der erste eindeutige Vormenschenfund aus Afrika und der älteste eines Vormenschen überhaupt.
Out of Asia?
Weiter geht der Stammbaum aus den 1960ern mit einem geografischen Sprung: Denn zu diesem Zeitpunkt sind Vertreter der nächsten Stufe in der Menschheitsentwicklung, des Homo erectus, nur aus Asien bekannt. Schon 1891 hatte Eugene Dubois auf Java ein Schädelfragment und einen Oberschenkelknochen dieser Art entdeckt. In den 1920er Jahren wurden weitere Skelettteile in der Nähe von Peking gefunden. Sie erwiesen sich als Relikte eines bereits aufrecht gehenden, Steinwerkzeuge herstellenden Frühmenschen, der vor rund einer Million Jahren lebte.
Das Problem: Homo erectus ist bis zu diesem Zeitpunkt nur aus Asien bekannt. In Afrika scheint es nach dem Australopithecus keine weiteren Vorfahren des Homo sapiens zu geben. Diese Lücke füllt man kurzerhand dadurch, indem man den entscheidenden Schritt vom Vormenschen zum Menschen auslagert: Nach damals gängiger Vorstellung entwickelte sich der Homo erectus aus affenähnlichen Vorfahren in Asien. Er wanderte dann nach Europa ein, wo er sich zum Neandertaler weiterentwickelte. Aus diesem dann entstand schließlich der moderne Mensch.
In ihrem Bestreben, die Lücke zwischen Australopithecus und Homo erectus zu füllen, konzentrieren sich die Paläontologen und Anthropologen daher in den 1960er vorwiegend auf Asien. Dort, so hoffen sie, müssen sich die Relikte des fehlenden Bindeglieds finden lassen. Doch damit liegen sie falsch. Denn die entscheidende Entdeckung passiert ausgerechnet dort, wo sie zu dieser Zeit keiner erwartet: in Afrika.
Nadja Podbregar
Stand: 25.04.2014