Neu ist das ja alles nicht. Ein vereinter Kontinent, Diskussion um Grenzen, Impulse von außen: Alles schon dagewesen, in der Antike sogar. Das wird einem klar, wenn man den Latinisten Martin Korenjak und Isabella Walser-Bürgler zuhört.
„Vorformen einer europäischen Identität gab es spätestens im Mittelalter, aufgehängt am ‚christlichen Abendland’. In der Neuzeit bewegt sich der Begriff dann von der religiösen Komponente weg und wird mit anderen Werten verbunden, mit Wissenschaft, Fortschritt, Kultur“, sagt Martin Korenjak. Er forscht zur europäischen Wissenschaftsgeschichte und wie die sich in der lateinischen Literatur zeigt – konkret in der neulateinischen, also in der Neuzeit, als Latein als Muttersprache zwar ausgestorben, als Verkehrssprache unter Gelehrten aber weit verbreitet ist.
Seine Kollegin Isabella Walser-Bürgler forscht zum Europabegriff in der lateinischen Literatur: „Die lateinische Literatur zu Europa ist bislang noch relativ wenig berücksichtigt, wir haben fast nur nationalstaatliche und nationalsprachliche Quellen. Ich arbeite daran, neue Perspektiven auf den damaligen Europadiskurs zu eröffnen.“
Europa als Ausnahme
Ein Diskurs, der fast so alt ist wie der Kontinent selbst. Geografisch etwa: Schon die Römer waren sich uneinig, wo Europa aufhört. An welchem Fluss ist Schluss? Am Don? Am Dnepr? Das Uralgebirge ist auch heute noch bloße Konvention, völkerrechtlich festgelegt ist diese Grenze nicht.
„Bis ins 19. Jahrhundert hat man Kontinente nie anders als geografisch verstanden. Mit einer bedeutenden Ausnahme: Europa“, erklärt Walser-Bürgler. „Dieser Begriff war zu keinem Zeitpunkt neutral, immer war daran eine bestimmte Art der Zusammengehörigkeit geknüpft, der Abgrenzung, das zeigt die Literatur deutlich.“ Die Abgrenzung galt dabei vorrangig gegenüber Osmanen, Barbaren, eben Nicht-Europäern.
Latein als Kitt des frühen Europas
Eine wichtige Rolle spielt dabei die lateinische Sprache: Sie ist bis weit in die Neuzeit die Lingua franca der europäischen Gelehrtenwelt und der Geistlichkeit. So bildete sich als frühe Wissenschaftlergemeinschaft die „res publica literaria“ heraus, die Gelehrtenrepublik: Ihr gehörten alle wissenschaftlich Tätigen an, sie umfasste den gesamten lateinischen Sprachraum und ist damit als Vorläuferin der europäischen Einheit zu sehen.
Und im Gegensatz zu den in Europa herrschenden Monarchien begriffen sich die Gelehrten als Republik. Sie waren auch die Träger der Aufklärung und trugen bedeutend zur Entstehung eines Europabewusstseins bei, das sich von der rein religiösen Definition löste. Aufgeklärt wurde auch von unerwarteter Seite: Jesuiten trugen als Missionare Wissen von außen nach Europa und befeuerten damit wissenschaftliches und aufklärerisches Denken. „Die Kirche schickte Missionare in nahezu alle denkbaren Weltgegenden, meist waren das Jesuiten. Diese Missionare unterrichteten dann auf Latein Europa darüber, was in anderen Teilen der Welt vor sich ging“, erzählt Korenjak.
Die Rolle von Latein als Sprache und der Jesuiten als Vermittler wird auch durch andere Beispiele deutlich: „Berühmt ist ein Beispiel vom Ende des 17. Jahrhunderts: Das expandierende chinesische Reich der Qing-Dynastie und das ebenfalls expandierende russische Reich stießen damals aufeinander, und es kam zu Konflikten. Der erste Friedensvertrag zwischen beiden Reichen war in Latein abgefasst: Die Chinesen konnten kein Russisch, die Russen kein Mandarin, aber auf beiden Seiten gab es europäische Jesuiten, die die jeweilige Landessprache beherrschten und Latein als neutrale, aber verbindliche Sprache für beide Seiten verwendeten.“
Quelle: Universität Innsbruck