Behaarung, Gewicht, Gehirnvolumen, Leben auf Bäumen: Auf den ersten Blick hat Ardipithecus ramidus viel mehr mit Affen gemein als mit Menschen – so scheint es zumindest. Doch Ardi und ihre Artgenossen besaßen noch ein weiteres Merkmal, das ihnen schließlich auch das Prädikat Vormensch einbrachte: den aufrechten Gang.
Klettern und Laufen
„Ardipithecus war in erster Linie ein geschickter Kletterer“, beschreibt der Paläontologe Ioannis Giaourtsakis von der Universität München Ardis Art der Fortbewegung. „Auf dem Boden konnte sich der Hominide aber auch auf zwei Beinen bewegen.“ Dies schließen die Wissenschaftler unter anderem aus der Rekonstruktion des Beckens und der Analyse der wenigen erhaltenen Fußknochen.
Sie entdeckten aber auch, dass sich das so genannte Hinterhauptsloch am Schädel – durch das der hinterste Gehirnteil mit dem Rückenmark verbunden ist – bei Ardi deutlich unterhalb der Schädelbasis befindet. Damit ist die Voraussetzung für das Balancieren des Kopfes auf der Wirbelsäule gegeben, das für den aufrechten Gang notwendig ist. Bei Affen endet das Rückgrat stattdessen höher am Hinterkopf.
Da Ardipithecus ramidus bereits vor rund 4,4 Millionen Jahren auf der Erde lebte, gilt die Art seit 2009 als bisher ältester bekannter Vorfahre des modernen Menschen. Er liegt damit rund 1,2 Millionen Jahre näher am letzten gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Schimpanse als Lucy.
Das Aus für die Savannen?
Ardi war also zumindest was die Fortbewegung betrifft ein echter „Zwitter“. Da der Vormensch zudem nachgewiesenermaßen in Waldgebieten lebte, war damit auch eine ebenso alte wie umstrittene These der Evolutionsforscher endgültig vom Tisch: Danach sollte sich der aufrechte Gang des Menschen erst als Anpassung an das Leben in der weitgehend baumlosen Savanne entwickelt haben – beispielsweise, um besser über die hohen Gräser schauen zu können und so drohende Gefahren oder Beutetiere frühzeitig zu entdecken.
Knöchelgang kam nicht zuerst
Und noch mit einem anderen Mythos konnten die Ardi-Forscher aufräumen: Denn der Vormensch besaß relativ unspezifische, aber dafür bewegliche Hände und Handgelenke, und zeigte bei der Fortbewegung auf allen Vieren am Boden keineswegs affentypische Muster. „Wenn sie sich auf allen Vieren bewegte, lief sie nicht auf ihren Knöcheln wie ein Schimpanse oder Gorilla, sondern auf ihren Handflächen. Kein heutiger Affe tut dies“, erklärt Professor Tim White von der Universität von Kalifornien in Berkeley.
Der Knöchelgang war demnach nicht – wie bis dahin gedacht -, ein sehr ursprüngliches Merkmal, das schon vor der Trennung der Entwicklungslinien von Mensch und Affen existierte. Es wurde vielmehr von Gorilla und Schimpanse irgendwann später nachträglich erworben.
Friedliche Affenmenschen
Wichtige Rückschlüsse auf das Verhalten von Ardipithecus ramidus brachte dagegen die Analyse der gefundenen fossilen Zähne. Danach waren Ardi & Co vermutlich relativ friedliche Wesen, die in Harmonie die Wälder durchstreiften. „Das Gebiss von Ardipithecus zeigte nämlich eine weitere Auffälligkeit“, berichtet Giaourtsakis. „Die männlichen Primaten mit Ausnahme des Menschen tragen stark vergrößerte Eckzähne, mit denen sie drohen und angreifen. Die Eckzähne von Ardipithecus waren dagegen stark reduziert, was möglicherweise auf eine soziale Struktur ohne große Konflikte zwischen Männchen schließen lässt.“
Viele offene Fragen
So viel die Wissenschaftler mittlerweile auch über Ardipithecus ramidus in Erfahrung bringen konnten, eine ganze Reihe von Fragen sind zurzeit noch offen. So spekulieren White und Giaourtsakis zurzeit noch darüber, ob Ardipithecus schon in stabilen Zweierbeziehungen lebte oder doch noch zur Haremsbildung neigte. Antworten auf diese und andere Fragen können wohl nur weitere Skelettfunde von dieser Art liefern.
Stand: 22.01.2010