27. April 2009, Genf. Alarmiert durch Meldungen über Influenzafälle neuen Typs vor allem aus den USA, ruft die WHO die Pandemie-Warnstufe vier aus. Diese gilt dann, wenn örtliche Häufungen von Neuinfektionen ohne nachweisbaren Kontakt der Erkrankten zu bereits Erkrankten oder großflächige Mensch-zu-Mensch-Übertragungen auftreten. Zuvor herrschte wegen der noch immer auftretenden Vogelgrippe – ebenfalls eine Variante der Influenza A – bereits seit längerem die Warnstufe drei. Doch nun sieht alles danach aus, dass statt des Geflügelvirus ein Schweinevirus den Sprung zum Menschen und damit zu einer „emerging disease“, einer neu auftretenden Krankheit, geschafft haben könnte. Ärzte und Kliniken werden zur Überwachung und Meldung von Grippefällen aufgefordert und mit einem eilends entwickelten Gentest ausgestattet.
Doch die Lawine rollt bereits. Immer mehr Fälle werden gemeldet. In Kalifornien ruft Gouverneur Arnold Schwarzenegger den Notstand aus. Auch aus Mexiko gehen nun Berichte über eine neue Grippewelle ein, an der vor allem in den Bezirken Mexico City, Baja California, Oaxaca und San Luis Potosi bereits 80 Menschen gestorben sein sollen. Den Beginn dieser Epidemie – und möglicherweise auch den Ursprung der gesamten neuen Schweinegrippe setzen die Epidemiologen auf den 15. Februar in Mexiko fest. Da dort jedoch gleichzeitig auch eine „normale“ saisonale Grippe grassiert, ist die Zuordnung der Fälle zunächst schwierig. Erst die neuen Schnelltests zeigen das ganze Ausmaß der Ausbreitung.
Warnstufe fünf – die Pandemie rückt näher
Schon am 29. April ruft die WHO die nächsthöhere Pandemie-Warnstufe aus. Stufe fünf ist als „erhebliches Pandemierisiko“ charakterisiert und gilt dann, wenn es mindestens in zwei WHO-Mitgliedsregionen zu fortdauernden Ausbrüchen kommt, bei denen eine Mensch-zu-Mensch-Übertragung naheliegt.
Schon sechs Tage später, am 5. Mai, gibt es Influenzameldungen aus 21 Ländern, insgesamt 1.490 Fälle. 642 Erkrankte sind es allein in den USA, 140 in Kanada. Ein aus Mexiko zugereister Säugling stirbt in einem Krankenhaus in Texas. Vor allem Schulkinder und junge Erwachsene scheinen betroffen. Die WHO warnt vor unnötigen Reisen ins Ausland, Reisende und Angestellte an Flughäfen sollen zudem auf Menschen mit Grippesymptomen achten.
Spitze des Eisbergs
In einem CDC-Briefing am 18. Mai betont Anne Schuchat, Wissenschaftlerin am Zentrum für Immunisierung und Atemwegserkrankungen der CDC: „Wir wissen, dass unsere Fallzahlen unvollständig sind. Sie sind nur die Spitze eines Eisbergs.“ Denn wie viele Patienten mit milden Verläufen der Krankheit gar nicht erst zum Arzt gehen, ist unbekannt. „Es ist wichtig, dem Gedanken zu widersprechen, dass wir die Talsohle schon erreicht haben oder dass dies ein für uns nicht ernst zunehmendes Problem ist.“
Sie behält Recht: Rund drei Wochen später, am 26. Mai hat sich die Zahl der Influenzafälle bereits fast verzehnfacht: die Berichte vermelden 12.954 Infektionen in 46 Ländern und 92 Todesfälle. Die WHO veröffentlicht täglich Karten, die die aktuellen Zahlen und Entwicklungen zeigen. Schwerpunkt sind noch immer Mexiko, die USA und Kanada, aber auch in Japan, Spanien und Großbritannien überschreitet die Zahl der bestätigten Fälle die Hundertermarke. In Deutschland sind zu diesem Zeitpunkt 17 Menschen erkrankt.
Wann kommt Stufe sechs?
Nach Ansicht einiger Wissenschaftler sind sogar die Bedingungen für die Pandemie-Warnstufe sechs bereits erfüllt. Sie tritt ein, wenn in mindestens zwei WHO-Regionen eine regelmäßige Mensch-zu-Mensch-Übertragung erfolgt. Da sich die neue Schweinegrippe in Nord- und Mittelamerika konstant ausbreitet und auch in Asien und Europa Fuß gefasst hat, ist es Interpretationssache, wann dort auch eine solche „Regelmäßigkeit“ der Infektion vorliegt.
Tritt Stufe sechs allerdings tatsächlich in Kraft, dann hätte dies Konsequenzen für alle WHO-Länder. Denn dann müssen Notfallpläne, die die Bereitstellung von Medikamenten und Personal umfassen, sofort aktiviert werden. Noch aber zögert die WHO. Noch ist nicht eindeutig klar, ob sich nicht die Ausbreitung des Virus doch noch verlangsamt, die Epidemie gar ausläuft. Genauso möglich ist es aber, dass sich das Tempo noch beschleunigt, oder gar dass das gefürchtete Worst-case Szenario eintritt: dass sich das Virus weiter verändert und durch Rekombination beispielsweise mit dem Vogelgrippevirus noch deutlich tödlicher wird als bisher.
Obwohl heute absolut unklar ist, in welche Richtung die Entwicklung läuft, geht auch jetzt schon die Angst um. Längst haben die meisten Länder, auch Deutschland, ihre Bestände an den antiviralen Mitteln Tamiflu und Relenza geprüft, gezählt wie viele Dosen für welchen Prozentsatz der Bevölkerung im Ernstfall vorhanden wären. Nachbestellungen laufen, die Pharmakonzerne kommen mit der Produktion kaum mehr hinterher.
Nadja Podbregar
Stand: 29.05.2009