Die Sprache macht den Menschen einzigartig. Vielleicht schon seit mehr als 200.000 bis 300.000 Jahren teilt er sich seinen Zeitgenossen durch artikulierte Töne mit, zischt, gluckst, haucht, klickt und knarrt mit seiner Stimme. Das biologische Alleinstellungsmerkmal liefert ein ganzes Arsenal an Lauten, mit denen Homo sapiens im Lauf der Geschichte unzählige Sprachen und Dialekte entwickelte.
Von mehreren Tausend auf nur noch eine Handvoll
Chinesisch, Arabisch, Englisch, Hindi oder Russisch – solche linguistischen Schwergewichte verstellen den Blick darauf, wie groß die sprachliche Vielfalt heutzutage tatsächlich ist. Weltweit gibt es rund 6.500 Sprachen – zumindest noch. Denn Sprachen sterben. Das war schon lange vor der Neuzeit so. Doch noch nie war die Gefahr so groß wie heute, dass unzählige sang- und klanglos verschwinden.
In weniger als 100 Jahren, so schätzen Experten, wird bestenfalls noch die Hälfte des heutigen Sprachschatzes existieren, vor allem weil sich immer mehr Menschen dazu entscheiden, nur einer Hand voll davon den Vorzug zu geben. Jeder zweite Mensch auf der Erde verständigt sich heute laut dem Sprachkatalog „Ethnologue“ mit einer von nur 20 Großsprachen wie Chinesisch, Englisch, Spanisch oder Portugiesisch. Drei Viertel aller übrigen bekannten Sprachen haben dagegen derart geringe Sprecherzahlen, dass diese in der Summe gerade einmal ein Prozent der Menschheit ausmachen!
Mit der Sprache geht auch die Kultur verloren
Akut sind die Sprachen tausender kleiner Völker bedroht – nicht nur auf entlegenen Pazifikinseln oder in den Regenwäldern des Amazonas, sondern weltweit. Auch hier zu Lande: So stehen etwa Sorbisch, Nord- und Saterfriesisch oder Plattdeutsch auf der Roten Liste. Längst schlagen Linguisten Alarm. Einer von ihnen ist Nikolaus Himmelmann von der Universität zu Köln: „Was hier droht verloren zu gehen, sind ganze Kulturschätze!“ Denn Sprachen bestehen nicht nur aus Wörtern und Grammatik, sondern sie speichern auch das Wissen einer Gemeinscha¬ft – über Flora und Fauna, den Haus- oder Bootsbau, Bräuche, Märchen, Weltbilder und letztlich die ganze Geschichte eines Volks.
Wenn niemand mehr existiert, der die Dinge beim Namen nennt, dann verarmt das kulturelle Gedächtnis der Menschheit. „Dasselbe gilt für die Wissenscha¬ft. Wir Linguisten wollen im Grunde wissen, wie Sprache funktioniert. Dazu müssen wir aber möglichst viele Sprachen kennen, was nicht annähernd der Fall ist– nicht einmal zehn Prozent sind bislang hinreichend erforscht“, mahnt Himmelmann. »Deshalb müssen wir diese Vielfalt und in erster Linie bedrohte Sprachen dokumentieren.“ Und das sind über 5.000 aller bekannten Sprachen – die größten davon werden von meist nicht mehr als 100.000 Menschen beherrscht.
Karin Schlott / VolkswagenStiftung, Broschüre Bedrohte Sprachen
Stand: 24.05.2013