Es ist nur ein flüchtiger Moment und doch ist er entscheidend: Wenn sich zwei Atome miteinander verbinden, ändert sich mit einem Schlag ihre gesamte Natur. Aus einem glänzenden Metall wie Eisen wird stumpfer Rost, aus hochgiftigem Chlorgas wird nach Bindung an Natrium harmloses Kochsalz. Dass ein so fundamentaler Wandel nur durch die Wechselwirkung einiger weniger Elektronen in den Atomhüllen zustande kommt, erscheint fast unglaublich.
Umso wichtiger ist es zu wissen, was wirklich im Moment der chemischen Bindung geschieht. Wie genau verändern sich die Elektronen und ihre Orbitale bei diesem Übergang und warum hat dies so enorme Auswirkungen? „Dies ist der Kern aller Chemie – sozusagen der heilige Gral für uns Chemiker“, erklärt Anders Nilsson von der Universität Stockholm.
„Unmögliche“ Beobachtung
Lange galt es als unmöglich, die Bildung einer neuen Bindung live mitzuverfolgen. Denn der Übergang geschieht nicht nur innerhalb von Sekundenbruchteilen, das Geschehen auf Atomebene ist auch so klein, dass erst neueste Techniken es sichtbar machen können. Und diese müssen es schaffen, ihren „Blick“ genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu haben. „Weil in jedem Moment immer nur wenige Moleküle diesen Übergangszustand einnehmen, dachte keiner, dass wir das jemals direkt beobachten können“, sagt Nilsson.
Doch Anfang 2015 ist dies doch gelungen – gleich zwei Teams haben Atome quasi auf frischer Tat ertappt. Das Experiment von Nilsson und seinem Team begann mit Sauerstoffatomen, die gemeinsam mit Kohlenmonoxid-Molekülen (CO) auf einer Rutheniumfläche lagen. Durch Bestrahlung mit einem starken Laser führten die Wissenschaftler nun die Energie zu, die für eine Reaktion von Sauerstoff und Kohlenmonoxid zu Kohlendioxid (CO2) nötig ist. Das Entscheidende jedoch: Ultrakurze Pulse eines Röntgenlasers dienten den Forschern dabei als Kamera. Sie fingen spektrale Schnappschüsse der Reaktionspartner vor, während und nach der Bildung der neuen Bindung ein und erlaubten so Rückschlüsse über die Bewegungen der Atome und die Elektronenzustände.
Nur zehn Prozent schaffen es
Und tatsächlich: Die Chemiker konnten direkt beobachten, wie die Bindung der beiden Partner sich anbahnt und schließlich eintritt. Den Anfang machen die einzelnen Sauerstoffatome: Nach rund 300 Billiardstel Sekunden der Laserbestrahlung beginnen sie zu vibrieren und bewegen sich von ihrer Position in den „Tälern“ der Rutheniumfläche auf die „Hügel“. 200 Femtosekunden später wird auch das CO-Molekül aktiviert.
Nach rund 800 Femtosekunden kommt es zu ersten Kollisionen der Reaktionspartner in spe: Das 2p-Orbital des Sauerstoffs und das π-Orbital des CO beginnen ihre Form zu verändern. Es entsteht ein Übergangszustand, bei dem das Kohlenstoffatom des CO-Moleküls und ein Sauerstoffatom eine provisorische Bindung eingehen. Bei dieser schwachen OC-O-Kopplung stehen die beteiligten Partner aber noch relativ weit voneinander entfernt.
Das Überraschende jedoch: Dieser Übergangszustand mündet keineswegs immer in einer echten Bindung – im Gegenteil: Nur zehn Prozent der „provisorischen“ Moleküle schafften den Schritt zum Kohlendioxid, der Rest zerfiel wieder in die Ausgangskomponenten. „Nur sehr wenige dieser Reaktionen führen demnach tatsächlich zum Endprodukt“, sagt Nilsson. „Das ist, als wenn man Murmeln einem Hügel hinaufrollt: Nur ein kleiner Teil rollt nicht wieder herunter, sondern bleibt auf dem Gipfel liegen.“
Goldatome beim Binden
In einem zweiten Experiment haben koreanische Forscher um Kyung Hwan Kim in Wasser gelöste Goldatome bei der kovalenten Bindung beobachtet – eine besondere Herausforderung. Den Ausgangszustand bildete das trimere Goldcyan [Au(CN)2]3, eine Komplexverbindung, bei der die Goldatome nur lose über Wasserstoffbrückenbindungen gekoppelt sind. Bei Lichtbestrahlung kommt es zwischen ihnen vorübergehend zu einer kovalenten Bindung.
Was dabei geschieht, enthüllten auch hier ultrakurze Röntgenpulse. Sie zeigten: Die anfangs in geknicktem Winkel zueinander stehenden Goldatome verändern bei Anregung durch Licht ihre Konfiguration: Sie ordnen sich linear an und teilen ihre Elektronen wie für die kovalente Bindung typisch. Nach gut einer Billionstel Sekunde kontrahieren diese Goldbindungen und das Goldcyan-Trimer wandelt sich in ein Tetramer um – nur um kurz darauf wieder zu zerfallen und in den Ausgangszustand zurückzukehren.
Noch sind diese Einblicke in den Moment der chemischen Bindung wenig mehr als einzelne Schnappschüsse. Denn jedes Element und Molekül reagiert je nach Partner und Bedingungen auf ganz eigene Weise. Für Chemiker gibt es daher rund um diesen „Gral der Chemie“ noch einiges zu entdecken.
Nadja Podbregar
Stand: 12.10.2018