Der an einer milden Form einer angeborenen Leberfunktionsstörung leidende Jesse Gelsinger weiß, dass ihm die Gentherapie nicht helfen wird. Dennoch meldet sich der junge Amerikaner im September 1999 freiwillig für eine klinische Studie am Institut für Gentherapie der Universität von Pennsylvania. Er will dazu beitragen, eine wirksamere Therapie für Kinder mit einer tödlichen Variante seiner Krankheit zu entwickeln. Was er nicht weiß: Er wird diesen, ihm als „sicher“ beschriebenen Versuch nicht überleben. Jesse Gelsinger ist gerade 18 Jahre alt, als er stirbt.
Jesse leidet an der relativ seltenen Krankheit OTCD, der Ornithin-Transcarbamylase-Defizienz. Sein Körper kann aufgrund eines angeborenen Gendefekts das bei der Verdauung von Proteinen anfallende Ammoniak nicht abbauen. Unbehandelt führt diese Krankheit zu einer langsamen Vergiftung des Körpers und zum Tod. Jesse jedoch hat seine Krankheit gut im Griff: Dank strikter proteinarmer Diät und bis zu 30 Pillen am Tag führt er ein fast normales Teenager-Leben und träumt sogar davon, später einmal Profi-Ringer zu werden.
{1l}
Tödliche Abwehr gegen die Virenschwemme
Als der knapp 18-Jährige im Sommer 1999 jedoch hört, dass Wissenschaftler in Philadelphia Probanden für einen klinischen Test mit einer neuen vielversprechenden Therapie für seine Krankheit suchen, will er helfen. Sein Vater, Paul Gelsinger, unterstützt ihn darin: „Es schien sicher. Es wurde als sicher hingestellt. Ich habe meinen Sohn noch dazu ermutigt, das zu tun.“ Mitte September ist es soweit: Jesse Gelsinger erhält eine Infusion mit Milliarden von genetisch veränderten Adenoviren direkt in die Leber. Die als Genfähren dienenden Viren sollen eine gesunde Kopie des bei Jesse defekten Gens in seine Leberzellen einbauen und so die Fehlfunktion ausgleichen.
Das ist die Theorie. Doch die Realität sieht anders aus: Wenige Stunden nach der Infusion beginnt sein Immunsystem, sich gegen die Virenschwemme zur Wehr zu setzen. Jesse bekommt hohes Fieber, Schmerzen, sein Blut beginnt sich zusammenzuklumpen, Organe versagen. Tagelang kämpfen die Ärzte um sein Leben, doch vergebens: Vier Tage nach der Infusion ist Jesse tot. Er gilt bis heute als das erste offizielle Opfer der Gentherapie.
Fehler und Vertuschungen
Alarmiert durch den tragischen Zwischenfall stoppt die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA im Herbst 1999 sofort alle klinischen Studien, bei denen nach ähnlichem Muster Adenoviren verabreicht werden sollen, und beginnt, die Hintergründe von Gelsingers Fall zu untersuchen. Entsetzt müssen die FDA-Forscher feststellen, dass sie dabei ein wahres Schlangennest aus Fehlern, Unterlassungen und Vertuschungen aufgedeckt haben. James Wilson, der Leiter der Studie, gesteht im Dezember 1999 vor einem Untersuchungsausschuss der Kontrollbehörde ein, zwei Todesfälle bei Tierversuchen an Affen mit ähnlich modifizierten Adenoviren verheimlicht zu haben. Auch die bereits vor Jesses Behandlung bei anderen Freiwilligen in der Studie aufgetretenen schweren Nebenwirkungen hatten die Forscher schlicht „vergessen“.
Zudem haben die Wissenschaftler eigenmächtig das ursprünglich für die Studie genehmigte Verfahren – die intravenöse Injektion der Adenoviren – abgeändert, ohne die Kontrollbehörden davon zu unterrichten. Statt in eine Körpervene erhielt Jesse die milliardenschwere Virenfracht direkt in die ohnehin geschwächte Leber. Doch weder die Gesundheitsbehörden, noch Jesse oder seine Eltern wurden von den Komplikationen und Veränderungen unterrichtet, da die Tests dann sofort hätten abgebrochen werden müssen. Gefragt, warum er die Zwischenfälle und Veränderungen am ursprünglichen Konzept nicht gemeldet habe, antwortet Wilson vor dem Untersuchungsausschuss: „Es war ein Versehen…“.
Nadja Podbregar
Stand: 08.02.2013