In Sibirien erweist sich erneut eine weitere Stärke Alfred Brehms. Mit ebenso scharfem Blick, wie er die Tiere in der Wüste, in den Savannen, den Urwäldern Afrikas und den Lorbeerwäldern Spaniens beobachtet hatte, studiert er auf seinen Reisen stets auch die einheimischen Völker. Er beschreibt die kreisrunden Thokul-Häuser aus Stroh im Sudan, schildert die Verbundenheit der Ostjaken mit ihren Rentieren im Norden Sibiriens, erläutert die Stammesstrukturen der Kalmüken und die Gewohnheiten spanischer Schmuggler.
Die letzten ihrer Art
Über die Nomaden Zentralasiens liegen besonders ausführliche, zum Teil fast minutiöse Beschreibungen ihres Tagesablaufs vor, die Brehm während der langwierigen Fahrt auf dem Ob in Richtung Nord-Sibirien verfasste. Aus heutiger Sicht gelten sie als letztmalige Bestandsaufnahme des ursprünglichen Nomadentums in Zentralasien, das schon von der russischen Zivilisation bedrängt wurde und durch die bäuerlich-sesshafte Lebensweise ersetzt zu werden drohte.
„Das Bewusstsein der Kraft, der Geschicklichkeit im Reiten, Jagen, die dichterische Begabung und das Gefühl der Freiheit, welches jedem Kirgisen innewohnt, verleiht seinem Auftreten Sicherheit und Würde“, schreibt Brehm nach Begegnungen mit den Bewohnern der Steppe, die sich zu weiten Teilen im heutigen Kasachstan erstreckt. Brehm räumt selbst ein, dass die Zeit zu kurz gewesen sei, um dem Volk wirklich nahe zu kommen, doch er scheint selbst angenehm überrascht: „Der Kirgise macht auf den unbefangenen Beobachter einen sehr günstigen Eindruck, und dieser steigert sich bei längerer Bekanntschaft immer mehr.“
Immerhin reicht die Bekanntschaft, die Gastfreundschaft der Nomaden und ihre Sitten kennen zu lernen. Brehm schildert die Bedeutung der Pferde, die für die Viehhirten der größte Reichtum seien und in Tausenden gezählt würden, so dass ein einzelnes keinen Wert mehr besitze. Er wundert sich über die „absonderliche Weise“, in der die Ziegen und Schafe gemolken werden, indem die dafür zuständigen Frauen bis zu vierzig Stück Vieh in zwei Reihen stehend zusammenbinden. Die „geradezu entsetzlich saure“ vergorene Kuh-Milch der Kirgisen schmeckt ihm ebenso wenig wie Kumis, die Stutenmilch, die zumeist von reichen Leuten getrunken wird. Brehm hält sie für ein „nicht gerade widerliches, aber auch keineswegs besonders angenehmes Getränk“.
Für die Jurte im Eigenbau
Begeistert zeigt sich Brehm von den mobilen Behausungen der Viehhirten. In der Jurte sieht er „unzweifelhaft die vollkommenste aller beweglichen Wohnungen“. Sie hat es ihm offenbar so sehr angetan, dass er in Tagebuch 12 der Sibirienreise eine regelrechte Bauanleitung inklusive Maßangaben für die Bauteile und Anweisungen für das Errichten einer solch praktischen Unterkunft liefert: „Nachdem man ziemlich sorgsam den betreffenden Platz untersucht, damit man nicht Ameisen oder andere Tiere in ihrem Frieden störe und sich Feinde machte oder aber später in das Regenwasser zu liegen komme, nimmt man zuerst die Gitter zur Hand, spreizt und biegt sie der Rundung der Jurte entsprechend, verbinde sie hierauf unter sich und sodann mit der aus vier Stücken, der Schwelle, den beiden Seitenpfosten und der Türdecke, bestehenden Tür durch Stricke und legt endlich einen breiten Gürtel oben um die Rundung, um dem ganzen Halt zu geben.“
Brehms Tagebücher, die seine Sibirienreise dokumentieren, werden durch die nahezu täglichen Berichte an seine Frau ergänzt. Er schickt sie ihr auf Postkarten, die er stenographisch beschreibt, um möglichst viele Informationen unterzubekommen. Zusammen sind sie als Berichterstattung für den Bremer Polarverein gedacht. Doch eine Veröffentlichung als eigenes Buch kommt nicht zustande. Dagegen berichtet Brehm später vor Publikum von dieser Reise. Die Geschichten vom Leben der Kirgisen in Sibirien gehören zu den beliebtesten seiner Vorträge…
Stand: 01.04.2005