Gras unter den nackten Füßen, Sonnenstrahlen auf der Haut oder eine sanfte Berührung am Arm – all das spüren und genießen zu können, empfinden die meisten Menschen als selbstverständlich. Doch für Betroffene sogenannter Gefühlsstörungen ist es das nicht. Sie können taktile Reize nicht so wahrnehmen wie normalerweise üblich.
Wie in Strümpfen und Handschuhen
Je nach Krankheitsbild empfinden die Patienten Berührungen, Temperaturunterschiede und auch Schmerz viel intensiver, weniger stark oder gar nicht. Gleichzeitig können Kribbeln oder Taubheitsgefühle in den betroffenen Körperregionen vorherrschen. Grund für diese Verfälschung des Berührungsempfindens sind Funktionsstörungen der Nerven. Diese können angeboren sein, aufgrund von Verletzungen entstehen oder auf eine ernsthafte Erkrankung hindeuten.
Das sogenannte Strumpf- und Handschuh-Gefühl ist zum Beispiel häufig das erste Anzeichen einer Multiplen-Sklerose, bei der das körpereigene Immunsystem die Markscheiden um die Nervenfasern im Zentralen Nervensystem angreift. Betroffene sind an den Gliedmaßen weniger sensibel. Es fühlt sich für sie so an, als würden sie ständig Handschuhe und Strümpfe tragen – oder als hätten sie Watte unter den Fußsohlen. Auch eine unbehandelte Diabetes-Erkrankung vermag das Fühlen an Armen und Beinen auf diese Weise zu beeinträchtigen.
Der Schmerz bleibt aus
Solche Empfindungsstörungen können nicht nur unangenehm sein. Im Extremfall erschweren sie den Alltag extrem und sind mitunter sogar gefährlich – zum Beispiel dann, wenn Patienten keinerlei Schmerzen wahrnehmen. Denn die Evolution hat das Schmerzempfinden als Warnsignal entwickelt. Es zeigt an, dass dem Körper Schaden zugefügt wurde und veranlasst uns dazu, uns zu schützen.
Ohne Schmerzen aber lernen Kinder zum Beispiel nicht automatisch, ihre Hand besser nicht auf eine heiße Herdplatte zu legen. Sie empfinden nichts, wenn der Schuh zu eng ist und auch nichts, wenn sie sich schwere Verletzungen zuziehen. So bleiben etwa Knochenbrüche häufig unbemerkt.
Ohne Körper im Raum
Neben dem Verlust der Schmerzwahrnehmung kann auch die Eigenwahrnehmung verloren gehen – jenes Gefühl, das uns zeigt, wo die Grenzen unseres Körpers liegen, wo genau die Umwelt anfängt und wie wir uns in ihr bewegen. Für diese Einschätzung greifen wir auf das Tastgefühl, den Gleichgewichtssinn und Tiefensensoren in Muskeln, Sehnen und Gelenken zurück. Bereits im Mutterleib lernt das Ungeborene so zwischen Ich und Außenwelt zu unterscheiden. Dieses Bewusstsein ist uns in die Wiege gelegt – und selbst ein Einzeller kann per Tastsinn Innen und Außen unterscheiden.
Doch was passiert, wenn diese Wahrnehmung plötzlich fehlt? Zeuge eines solchen seltenen Falls der Gefühlsstörung wurde der Neurophysiologe Jonathan Cole. In seinem Buch „Pride and a Daily Marathon“ berichtet er von seinem Patienten Ian Waterman, der aufgrund einer Virusinfektion vom Hals abwärts sein Körpergefühl als 19-Jähriger vollständig verlor. Er spürte nicht mehr, wo sich seine Beine, Arme oder Finger im Raum befanden, bemerkte weder das Betttuch auf seinem Körper, noch die sanfte Berührung einer anderen Person – sein Schmerz- und Temperaturempfinden blieb jedoch erhalten.
Als Folge konnte sich Waterman nicht mehr kontrolliert bewegen. Denn ohne Rückmeldung aus dem Körper hatte sein Gehirn für Bewegungsbefehle keine Anhaltspunkte. Ein Trick aber ermöglichte es ihm entgegen aller Erwartungen schließlich doch wieder, seinen Körper scheinbar normal zu koordinieren. Die fehlenden Sinneswahrnehmungen aus dem Haut-, Muskel- und Gelenksystem ersetzte er durch visuelle Kontrolle. Nur wenn er ihn direkt ansieht und die Bewegung bewusst plant, kann Waterman heute etwa seinen Arm bewegen oder einen Fuß vor den anderen setzen. Das Gefühl dafür, wo sich sein Körper befindet, fehlt ihm noch immer. Seine Augen aber verraten es ihm.
Daniela Albat
Stand: 02.09.2016