Riesenschlangen besitzen viele Merkmale, die mindestens genauso so spannend sind wie die angedichteten Eigenschaften. Ein Beispiel: die Fähigkeit zum Farbwechsel. Diese ist unter anderem bei trächtigen Weibchen vom Grünen Baumpython und der Hundskopfboa regelmäßig zu beobachten. Statt im normalen Hellgrün oder Blau-türkis, zeigen sich die Weibchen der beiden Arten in dieser Lebensphase viel dunkler als gewöhnlich.
Forscher vermuten, dass die Tiere so ihre Energiebilanz verbessern, indem sie mehr Sonnenlicht – und damit Wärme – aufnehmen können. Das ungewöhnliche Schauspiel ist vorbei, wenn der Nachwuchs da ist. Dann kommt es zur Häutung und die Schlangen tragen anschließend wieder ihre normale Färbung.
Auch Jungtiere wechseln die Farbe
„Make up“ legen aber nicht nur die Frauen von Baumpython und Hundskopfboa auf, sondern auch die Jungtiere. So besitzen die frisch geschlüpften Babys der Baumpythons nicht einmal ansatzweise das typische grün der erwachsenen Schlangen. Stattdessen ist ihre Haut oft leuchtend gelb oder rot gefärbt. Erst nach einigen Monaten – manchmal sogar Jahren – nehmen sie dann das Standard-Outfit an. Warum es und wie es zu dem Farbwechsel kommt, ist heute noch weitgehend unklar.
Der sechste Sinn
Mindestens ebenso geheimnisumwittert wie der Farbwechsel war für Tierforscher lange Zeit auch der präzise Wärmesinn von Python oder Boa. Doch im Jahr 2010 sind Wissenschaftler der Universität von Kalifornien in San Francisco hier einen entscheidenden Schritt weiter gekommen. Bekannt war bereits seit längerem, dass Riesenschlangen – wie viele ihrer Vettern und Kusinen – Infrarotstrahlung wahrnehmen können und damit bis auf drei tausendstel Grad genaue dreidimensionale Wärmebilder ihrer Umgebung erzeugen. Damit schaffen sie es, selbst in tiefster Nacht, Beute und Geschlechtspartner zu orten und sogar zwischen diesen zu unterscheiden.
Ein Rezeptor für Wärme
Wissenschaftler wussten auch, dass der Sitz dieses sechsten Sinns der Riesenschlangen das auf den Ober- und Unterlippen thronende so genannte Labialorgan ist. In ihrer neuen Studie konnten die Zoologen um David Julius nun auch den zuständigen Rezeptor für die Infrarotsicht enthüllen. Das Protein TRPA1 befindet sich auf den Nervenfasern des Labialorgans und fungiert als Ionenkanal, der durch Wärme aktiviert wird. TRPA1 ist ein alter Bekannter, der unter anderem auch beim Menschen existiert. Dort ist der Rezeptor allerdings nicht für Wärme zuständig, sondern registriert den scharfen Geschmack von Senföl und Wasabi.
So weit so gut. Doch endgültig ist das Problem des sechsten Sinns der Riesenschlangen damit noch nicht gelöst. Denn Anakondas, die ebenfalls zur Tiergruppe der Boas gehören, verfügen nicht über Labialorgane und sind trotzdem in der Lage, Wärmequellen auch über größere Distanzen zu orten. Wie sie das schaffen? Die Wissenschaftler stehen (noch) vor einem Rätsel.
Von Giganten…
Auf den ersten Blick verwirrend sind nicht nur einige Eigenschaften der Riesenschlangen, sondern auch die Zusammensetzung des „Familien-Clans“ an sich. Denn zu dieser Tiergruppe gehören zwar auch die „Big Four“, die Großen Vier in der Schlangenwelt: Der Netzpython, der Tigerpython, die Große Anakonda und der Nördliche Felsenpython, die allesamt mehr als sechs Meter Länge oder mehr erreichen.
…und Zwergen
Eine Cousine dieser Giganten, die Westliche Sandboa, wird jedoch gerade mal 80 Zentimeter groß und übertrifft damit unsere heimische Kreuzotter (70 Zentimeter) nur unwesentlich. Aber was macht eine Schlange zur Riesenschlange, wenn nicht ihre Größe? Entscheidend für die Einordnung durch Wissenschaftler sind auch Kriterien wie ein massiver Schädelbau oder ein vergleichsweise großes Maul. „Und die Bezahnung“, nennt der deutsche Biologe Mark Auliya in einer Radiosendung von SWR2 ein weiteres typisches Merkmal aller Riesenschlangen.
Ungiftige Riesen
„Denn die Zähne von Riesenschlangen sind nicht gefurcht, wie bei anderen Schlangen. Riesenschlangen sind ungiftig. Und die Zähne der Riesenschlangen sind vor allem markant nach hinten gebogen oder geneigt.“ Folge: Wenn sie sich festbeißen, können sie die Beute auch festhalten. „Ein zweites Merkmal bei den Riesenschlangen sind Reste von Hinterbeinen im Beckengürtel. Und das ist auch ein Beweis dafür, dass diese Schlangen mal Beine hatten“, so Auliya weiter.
Dieter Lohmann
Stand: 15.10.2010