Das Phänomen der „Regeneration“ ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie tief basale Entwicklungsprozesse im Stammbaum des Lebens verankert sind. Bestimmte Vertreter der Nesseltiere, die Süßwasserpolypen (Hydrozoen), sind die „Champions der Regeneration“ im Tierreich, was sich eindrucksvoll zeigen lässt, schneidet man einen Süßwasserpolypen in 100 Teile: Nach wenigen Tagen sind daraus 100 neue, wohlgeformte Polypen entstanden.
Dass aus wenigen Zellen wieder vollständige Körper entstehen können, erscheint wie ein Wunder. Doch nicht nur Polypen, auch Plattwürmer, Seesterne und Salamander sind dieses Wunders fähig und regenerieren Gliedmaßen und innere Organe unmittelbar nachdem das Original abhanden gekommen ist.
Stammzellen sind der Schlüssel
Bei Süßwasserpolypen und weiteren regenerierenden Tieren konnten in den letzten Jahren Gene, Proteine und Signalwege identifiziert werden, die zu dieser erstaunlichen Regenerationskraft verhelfen. Auch wir Menschen besitzen grundsätzlich noch die Gene, mit deren Hilfe sich einfache Tiere regenerieren – die Kluft zwischen diesen Organismen und dem Menschen ist also geringer als gedacht.
Regenerierende Organismen ersetzen verlorene oder beschädigte Körperteile und Organe mithilfe von Stammzellen: Süßwasserpolypen etwa verfügen zeit ihres Lebens über eine Population von Stammzellen, die sie bei Bedarf mobilisieren und nutzen können, um die verschiedensten Teile des Körpers aus ihnen entstehen zu lassen. Andere Organismen, etwa Molche und Fische, wandeln bereits ausgereifte („differenzierte“) Zellen, die sich also bereits zu Haut-, Muskel- oder Nervenzellen spezialisiert haben, wieder in Stammzellen um, ein Vorgang, der „Dedifferenzierung“ genannt wird.
Woher kommen die Anweisungen
Auch Menschen besitzen in vielen Geweben Stammzellen. Die Möglichkeit dieser „erwachsenen“ (adulten) Stammzellen, bestimmte Zelltypen zu regenerieren, ist allerdings begrenzt. In allen Fällen gilt es zu verstehen, woher die regenerierenden Zellen ihre Anweisungen erhalten und welche Gene, Proteine und Signalwege für die Regenerationsfähigkeit verantwortlich sind.
Beim Süßwasserpolypen konnten die Heidelberger Wissenschaftler zeigen, dass die Produkte (die Proteine) der Wnt-Gene nicht nur während der Embryonalentwicklung oder der Knospung entstehen. Sie entstehen auch dann, wenn ein Süßwasserpolyp, der seinen oberen Körperteil, seinen „Kopf“, verloren hat, mit der Regeneration beginnt.
Zehn Zellen reichen für einen neuen Kopf
Die Forscher wollten wissen: Wie viele Zellen sind erforderlich, damit ein neuer Kopf entstehen kann? Um diese Frage zu beantworten, haben sie die regenerierende Spitze des Polypen in einzelne Zellen zerlegt und diese Zellen zunächst zu Gruppen unterschiedlicher Größe heranwachsen lassen. Gibt man diese Zellnester zu Ansammlungen von Körperzellen, kann man herausfinden, wie viele Zellen es für die Kopfbildung bedarf. Das Ergebnis: Nur etwa zehn Zellen sind dafür erforderlich.
Neben den Wnt-Molekülen sind noch weitere signalgebende Moleküle und regulatorische Proteine an der Regeneration des Süßwasserpolypen beteiligt – ausnahmslos Gene, die auch während der Entwicklung höherer Tiere, einschließlich der der Säugetiere, aktiv sind. Die Wissenschaftler um Professor Dr. Thomas W. Holstein gehen daher davon aus, dass es einen gemeinsamen Mindestsatz von Genen gibt, der für die Musterbildung und das Wachstum von Gliedmaßen und Organen komplexer Tiere benötigt wird.
Comeback der Regenerationsfähigkeit beim Menschen?
Die Forscher stehen jedoch erst am Anfang ihrer Arbeiten – dennoch sind schon heute faszinierende Anwendungsmöglichkeiten vorstellbar. Die Forschung an Süßwasserpolypen und anderen einfachen Entwicklungssystemen könnte aufdecken, wie entwicklungssteuernde Gene und Proteine in der Regeneration an- und wieder ausgeschaltet werden könnten. Dieses Wissen wäre vielleicht nutzbar, um die Regeneration von verletztem oder erkranktem Gewebe gezielt zu veranlassen – auch das des Menschen.
Thomas W. Holstein / Forschungsmagazin „Ruperto Carola“ der Universität Heidelberg
Stand: 02.07.2009