Sibylle Günters Theoriegruppe knackt an einer weiteren harten Nuss, denn unerwünschte Turbulenzen durchziehen das Plasma. „Das geht wie beim Kaffeeumrühren“, erläutert die Wissenschaftlerin: „Es bringt heiße Regionen nach außen und kalte Regionen nach innen.“ So verliert das kälteempfindliche Plasmainnere zu viel wertvolle Wärme.
Besonders in der Randschicht des Plasmas, die das heiße Innere gut isolieren soll, ist das ein ernstes Problem. „Dort ist die Physik sehr gemein, nämlich hochgradig nichtlinear“, sagt Günter. „Turbulenz ist ja eines der letzten Probleme der klassischen Physik, die noch ihrer Lösung harren.“ Turbulente Luftströmungen und Flüssigkeiten sind so schwer berechenbar, weil sie – salopp gesagt – auf allen Größenskalen ein gewisses Chaos beinhalten. Ein funktionierendes theoretisches Modell muss deshalb eine gewaltige Bandbreite an Skalen beherrschen, die vom riesigen Strömungswirbel bis hinunter zum Nanomaßstab einzelner Moleküle reichen kann. Mit diesem Problem kämpfen etwa Meteorologen bei ihren Computermodellen für die Wettervorhersage.
Im Fall des Fusionsreaktors setzt Sibylle Günter ihre Hoffnung auf eine Besonderheit: Dort gibt es eine kleinste Skala, die den Rechenaufwand limitiert. „Das ist der Radius der Kreisbewegung, die die geladenen Plasmateilchen im Magnetfeld machen. Mit den heutigen Rechnern und realistischen Physikmodellen können wir zwar nur kleine Ausschnitte aus dem Plasma simulieren, aber schon in wenigen Rechnergenerationen wird das besser werden.“ Die Garchinger Physiker sind mit Asdex Upgrade so erfolgreich, dass ihre Anlage Vorbild für das große Experiment ITER (lateinisch „der Weg“) ist.
ITER wird schon sehr nahe an die Zündbedingungen herankommen und erstmals selbst Tritium erbrüten. Die rund 4,6 Milliarden Euro teure Anlage entsteht nun im französischen Cadarache. An der Finanzierung beteiligen sich die EU, Japan, die USA, Russland, Indien, China und Korea. ITER soll ab 2017 in Betrieb gehen. Später soll das erste Demonstrationskraftwerk namens DEMO folgen. Funktioniert dieses, dann werden – nach dem heutigen Fahrplan – von 2050 an die ersten Kraftwerke ans Netz gehen. „Ein Fusionskraftwerk hat keine Brennstäbe wie ein Kernkraftwerk“, nennt Sibylle Günter noch einen Grund für ihr Engagement.
Diese Technik wird also nicht den nachfolgenden Generationen radioaktiven Müll hinterlassen, der über Jahrtausende hinweg tödlich strahlt. Doch auch die Kernfusion wird ihren Preis haben: Wenn ein solcher Reaktor außer Betrieb geht, hat der jahrelange Neutronenbeschuss einige seiner Teile radioaktiv gemacht. Allerdings werden diese nur schwach strahlen im Vergleich zu Kernbrennelementen, und auch nur wenige hundert Jahre lang; das wird ihre Lagerung erheblich vereinfachen. Falls die Fusionsforscher Erfolg haben, wird die Gesellschaft entscheiden müssen, ob sie diesen Preis für das Sonnenfeuer auf Erden bezahlen will.
Stand: 01.09.2006