Eigentlich müssten die Isländer bestens auf den „Ernstfall“ vorbereitet sein: Ein Messnetz sorgt für Vorwarnung, Gebäude und Stromleitungen sind erdbebensicher gebaut und fast in jedem Jahr wird der Katastrophenfall geübt. 1997 fand die bisher größte dieser „Rescue Drills“ statt. Mehr als 1.400 Katastrophenhelfer und Soldaten aus mehreren Ländern trainierten, was und wie im Falle eines Erdbebens der Stärke sieben ganz in der Nähe der Hauptstadt Reykjavik zu tun sei. Sogar russische Helfer kamen mit einem ganzen Hospital, das mittels Fallschirm über jeder beliebigen Gegend abgeworfen werden konnte.
Das Szenario sah zerstörte Straßen und unterbrochene Strom- und Wasserleitungen vor, außerdem tausende von Verletzten. Die Bilanz nach der Übung war nicht schlecht, zumindest für die isländischen Katastrophenschützer: Sie hatten meist schon alle Arbeit getan, wenn die ausländischen Helfer schließlich doch noch in der jeweiligen „disaster zone“ angelangt waren.
Die Organisatoren konnten sich genau einen Monat lang über den Erfolg der Übung freuen – dann belehrte sie die Realität eines besseren. Am 23. August 1997 beginnt es unter dem Vulkan Hengill zu rumoren, ein ganzer Schwarm leichter Erdbeben setzt ein. Noch denken sich weder Seismologen noch die Bewohner des direkt unterhalb des Vulkans gelegenen Kurortes Hveragerdi etwas dabei – Business as usual. Auch eine 50 köpfige Athletengruppe aus Japan ist zu Gast, die am nächsten Morgen beim Islandmarathon in Reykjavik mitlaufen will.
Doch nur wenige Stunden später, um drei Uhr morgens, schaltet der Vulkan einen Gang höher: Ein Beben der Stärke 4,3 auf der Richterskala ereignet sich direkt in seinem Schlot – unmittelbar über der schlafenden Stadt. Die Erdstöße sind noch im rund 40 Kilometer entfernten Reykjavik zu spüren. In Hveragerdi reisst das Beben die Menschen aus dem Schlaf, einige rennen ins Freie, andere versuchen, über das Radio oder Telefon, Informationen zu bekommen – doch vergeblich. Auf die alles entscheidende Frage: Ist dies das große Beben, steht ein Ausbruch des Hengill bevor? – wissen weder die Polizei noch die Feuerwehr eine Antwort.
Als dann auch noch der Strom ausfällt, wächst die Panik immer mehr. Die japanischen Marathonläufer, selber Bewohner einer erdbebengefährdeten Region, flüchten sogar in Unterhosen auf die Straße. Sie sind darauf konditioniert, bei einem Beben unbedingt sofort die Gebäude zu verlassen. Es sollte dann noch fast vier Stunden dauern, bis endlich auch Polizei und Katastrophenschutz im Bilde sind. Erst um sieben Uhr morgens wird Entwarnung gegeben und die Bevölkerung darüber informiert, dass ein Ausbruch des Hengill wohl doch nicht zu befürchten sei.
Doch wie konnte ein solches Chaos überhaupt entstehen? Angesichts der Tatsache, dass gerade in dieser Region Millionen von US-Dollar für den Ausbau der Katastrophenschutzes und regelmäßige Übungen ausgegeben worden waren, war das Versagen des Notfallplans bei einem solchen vergleichsweise harmlosen Beben mehr als blamabel. Immerhin erwartete man hier in naher Zukunft nicht nur ein wesentlich stärkeres Beben, sondern im schlimmsten Falle auch gleich einen gewaltigen Vulkanausbruch. Was war passiert?
Zunächst verlief noch alles nach Plan: In Reykjavik, 40 Kilometer von Hveragerdi entfernt, hatten die Messinstrumente in der Zentrale des isländischen Wetterbüros schon unmittelbar nach dem Beben Alarm gegeben. Als Minuten später der Leiter des Katastrophenschutzes in Hveragerdi dort anrief, informierte der diensthabende Seismologe ihn über Stärke und Epizentrum des Bebens. Doch anstatt die Informationen weiterzugeben, hielt der lokale Katastrophenschutzbeauftragte das Beben für nicht relevant genug – schließlich bebte dort die Erde ohnehin ständig und das erwartete große Beben schien es ja auch nicht zu sein. Er benachrichtigte weder die örtliche Polizei noch die anderen Mitglieder des Katastrophenschutzkomitees. Stattdessen behielt er die Information für sich und ging wieder ins Bett.
Als diese Geschichte herauskam, hielten sich sowohl die isländischen Medien als auch die Bewohner der betroffenen Stadt mit Kritik und Spott nicht gerade zurück. Ob der Verantwortliche daraufhin gehen musste, ist fraglich. Immerhin erhielt die Stadt inzwischen neue, erdbebensichere Erdwärmepumpen und die örtliche Polizei hat eine eigene Direktleitung zu den Seismologen im Wetterbüro von Reykjavik beantragt…
Stand: 13.04.2001