Tausend Ziffern in dreißig Minuten lernen, 750 Großstädte auf Satellitenfotos erkennen oder nach nur einem Blick eine zufällige Kartenfolge auswendig können: Gedächtniskünstler leisten Verblüffendes. Sie sind wahre Supermerker, während „normale“ Menschen mitunter schon mit einer einfachen Telefonnummer Probleme haben.
Aber was unterscheidet die Merkprofis von den vergesslicheren Durchschnittsbürgern? Möglich macht die schwindelerregenden Leistungen nicht etwa ein größeres Gehirn, wie man vielleicht vermuten könnte. Wissenschaftler um Martin Dresler von der Radboud Universität in Nijmegen haben kürzlich herausgefunden, dass sich die Denkorgane von Gedächtnissportlern weder in Sachen Größe noch in Bezug auf andere anatomische Merkmale von denen anderer Menschen unterscheiden.
Stärker verknüpft
Ihr einziges Geheimnis scheinen stärkere funktionelle Verknüpfungen zu sein – komplexe Verschaltungen, über die unterschiedliche Hirnzellen und -areale miteinander kommunizieren und Daten austauschen. Wie Hirnscans zeigen, sind bestimmte dieser Verknüpfungen bei den „Superhirnen“ deutlicher ausgeprägt als bei „Normalos“.
Ein ganzes Bündel davon geht vom mittleren präfrontalen Cortex aus – dem Hirnareal hinter unserer Stirn, das unter anderem neues Wissen mit bereits bekanntem abgleicht. Das zweite Bündel konzentriert sich im benachbarten rechten dorsalen präfrontalen Cortex. Dieses Areal ist aktiv, wenn wir strategische Lerntechniken anwenden.
Dank Mnemotechnik zum Ziel
Das Spannende daran: Die funktionellen Verknüpfungen unseres Gehirns sind plastisch. Sie verändern sich je nach Beanspruchung, ähnlich wie die Muskeln in unserem Körper. Das könnte darauf hindeuten, dass die Fähigkeiten der Gedächtniskünstler gar keine besondere Gabe sind, sondern das Ergebnis intensiven Trainings.
Tatsächlich wenden die meisten Gedächtnissportler spezielle Merk- oder Mnemotechniken an, um sich an möglichst viele Informationen erinnern zu können. Dabei nutzen sie in der Regel zweierlei Dinge aus: Zum einen merkt sich das Gehirn Bilder wesentlich besser als abstrakte Begriffe oder Zahlen. Zum anderen sind Erinnerungen in unserem Gedächtnis oft eng mit Orten verknüpft, sodass ein bestimmtes räumliches Umfeld beim Erinnern an Inhalte helfen kann.
Orte der Erinnerung
Zum Einprägen übersetzen Gedächtniskünstler daher beispielsweise eine Ziffernfolge zunächst in Bilder. Danach kommt meist die sogenannte Loci-Methode – von lateinisch locus, der Ort – zum Einsatz. Sie geht auf die alten Griechen zurück und wurde in der Antike unter anderem von Wissenschaftlern und Rednern genutzt. Das Prinzip: Jedes Bild wird in Gedanken an einem bestimmten Ort entlang einer Wegstrecke oder innerhalb eines Gebäudes abgelegt.
Weg oder Gebäude können dabei aus der Realität bekannt sein oder ausschließlich im Geiste existieren – wichtig ist lediglich, dass sie gut eingeprägt sind. Zum Erinnern muss die entlang des Weges oder im Haus zurückgelegte Strecke dann nur noch einmal abgelaufen werden. Mittels Rückübersetzung der Bilder in Ziffern ergibt sich schließlich die ursprüngliche Ziffernfolge.
Sherlock Holmes‘ Gedächtnispalast
Detektivgenie Sherlock Holmes nutzt – zumindest nach der Interpretation der Macher der britischen TV-Serie „Sherlock“ – ebenfalls die Loci-Methode. In seinem Gedächtnispalast findet er alle noch so kleinen Details wieder und greift diese für seine berüchtigten Deduktionen auf, mit deren Hilfe er die kompliziertesten Fälle löst.
Auch jeder „Normalsterbliche“ kann sich im Prinzip einen solchen Erinnerungspalast erschaffen und mit ein bisschen Übung zum Gedächtniskünstler werden. Durch derartiges Training werden dann auch im Gehirn ursprünglicher Durchschnittsmerker die für Gedächtniskünstler typischen Verknüpfungsmuster gefördert.
Daniela Albat
Stand: 17.11.2017