Phänomene

Das Geheimnis der Gedächtniskünstler

Wie Gedankenpaläste beim Erinnern helfen

Tausend Ziffern in dreißig Minuten lernen, 750 Großstädte auf Satellitenfotos erkennen oder nach nur einem Blick eine zufällige Kartenfolge auswendig können: Gedächtniskünstler leisten Verblüffendes. Sie sind wahre Supermerker, während „normale“ Menschen mitunter schon mit einer einfachen Telefonnummer Probleme haben.

Ist das Gehirn von Merkprofis anders? © Phonlamai/ iStock.com

Aber was unterscheidet die Merkprofis von den vergesslicheren Durchschnittsbürgern? Möglich macht die schwindelerregenden Leistungen nicht etwa ein größeres Gehirn, wie man vielleicht vermuten könnte. Wissenschaftler um Martin Dresler von der Radboud Universität in Nijmegen haben kürzlich herausgefunden, dass sich die Denkorgane von Gedächtnissportlern weder in Sachen Größe noch in Bezug auf andere anatomische Merkmale von denen anderer Menschen unterscheiden.

Stärker verknüpft

Ihr einziges Geheimnis scheinen stärkere funktionelle Verknüpfungen zu sein – komplexe Verschaltungen, über die unterschiedliche Hirnzellen und -areale miteinander kommunizieren und Daten austauschen. Wie Hirnscans zeigen, sind bestimmte dieser Verknüpfungen bei den „Superhirnen“ deutlicher ausgeprägt als bei „Normalos“.

Ein ganzes Bündel davon geht vom mittleren präfrontalen Cortex aus – dem Hirnareal hinter unserer Stirn, das unter anderem neues Wissen mit bereits bekanntem abgleicht. Das zweite Bündel konzentriert sich im benachbarten rechten dorsalen präfrontalen Cortex. Dieses Areal ist aktiv, wenn wir strategische Lerntechniken anwenden.

Dank Mnemotechnik zum Ziel

Das Spannende daran: Die funktionellen Verknüpfungen unseres Gehirns sind plastisch. Sie verändern sich je nach Beanspruchung, ähnlich wie die Muskeln in unserem Körper. Das könnte darauf hindeuten, dass die Fähigkeiten der Gedächtniskünstler gar keine besondere Gabe sind, sondern das Ergebnis intensiven Trainings.

Tatsächlich wenden die meisten Gedächtnissportler spezielle Merk- oder Mnemotechniken an, um sich an möglichst viele Informationen erinnern zu können. Dabei nutzen sie in der Regel zweierlei Dinge aus: Zum einen merkt sich das Gehirn Bilder wesentlich besser als abstrakte Begriffe oder Zahlen. Zum anderen sind Erinnerungen in unserem Gedächtnis oft eng mit Orten verknüpft, sodass ein bestimmtes räumliches Umfeld beim Erinnern an Inhalte helfen kann.

Gedankenpaläste helfen beim Erinnern. © Z_wei/ iStock.com

Orte der Erinnerung

Zum Einprägen übersetzen Gedächtniskünstler daher beispielsweise eine Ziffernfolge zunächst in Bilder. Danach kommt meist die sogenannte Loci-Methode – von lateinisch locus, der Ort – zum Einsatz. Sie geht auf die alten Griechen zurück und wurde in der Antike unter anderem von Wissenschaftlern und Rednern genutzt. Das Prinzip: Jedes Bild wird in Gedanken an einem bestimmten Ort entlang einer Wegstrecke oder innerhalb eines Gebäudes abgelegt.

Weg oder Gebäude können dabei aus der Realität bekannt sein oder ausschließlich im Geiste existieren – wichtig ist lediglich, dass sie gut eingeprägt sind. Zum Erinnern muss die entlang des Weges oder im Haus zurückgelegte Strecke dann nur noch einmal abgelaufen werden. Mittels Rückübersetzung der Bilder in Ziffern ergibt sich schließlich die ursprüngliche Ziffernfolge.

Sherlock Holmes‘ Gedächtnispalast

Detektivgenie Sherlock Holmes nutzt – zumindest nach der Interpretation der Macher der britischen TV-Serie „Sherlock“ – ebenfalls die Loci-Methode. In seinem Gedächtnispalast findet er alle noch so kleinen Details wieder und greift diese für seine berüchtigten Deduktionen auf, mit deren Hilfe er die kompliziertesten Fälle löst.

Auch jeder „Normalsterbliche“ kann sich im Prinzip einen solchen Erinnerungspalast erschaffen und mit ein bisschen Übung zum Gedächtniskünstler werden. Durch derartiges Training werden dann auch im Gehirn ursprünglicher Durchschnittsmerker die für Gedächtniskünstler typischen Verknüpfungsmuster gefördert.

  1. zurück
  2. |
  3. 1
  4. |
  5. 2
  6. |
  7. 3
  8. |
  9. 4
  10. |
  11. 5
  12. |
  13. weiter

Daniela Albat
Stand: 17.11.2017

Keine Meldungen mehr verpassen – mit unserem wöchentlichen Newsletter.
Teilen:

In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Erinnerung
Das Geheimnis von Speichern und Vergessen

Lückenhafte Vergangenheit
Woran wir uns ein Leben lang erinnern – und woran nicht

Das Geheimnis der Gedächtniskünstler
Wie Gedankenpaläste beim Erinnern helfen

Realität oder Trugbild?
Warum wir unseren Erinnerungen nicht trauen können

Gezieltes Vergessen
Wie Erinnerungen "gelöscht" werden können

Diaschauen zum Thema

News zum Thema

Hunde erinnern sich ähnlich wie wir
Auch Hunde verfügen über eine Art episodisches Gedächtnis

Wie wir uns an negative Erlebnisse erinnern
Gehirn speichert emotionsgeladene Situationen ohne Kontext ab

Frauen erinnern sich stärker an Emotionen
Geschlechtsspezifische Mechanismen zur Emotionsverarbeitung und Gedächtnisleistung

Augen zu hilft dem Gedächtnis
Mit geschlossenen Augen erinnert man sich besser an Details

Orte der Erinnerung
Das räumliche Umfeld hilft beim Erinnern an bestimmte Inhalte

Männer erinnern sich besser an Unangenehmes
Emotionales Gedächtnis beider Geschlechter unterscheidet sich

Dossiers zum Thema