Vereinfacht dargestellt bestehen Proton und Neutron jeweils aus drei Quarks und den sie verbindenden Gluonen – so lernen wir es meist in der Schule. Doch dieses simple Bild täuscht. Denn in Wirklichkeit ist das Innere der Atomkern-Bausteine weit dynamischer und komplizierter. „Unser Verständnis der Dynamik, durch die aus Quarks und Gluonen ein Proton wird, ist bestenfalls mager“, konstatiert der Kernphysiker Paul Reimer vom Argonne National Laboratory in Illinois.
Woher kommt die Restmasse?
Ein Indiz dafür ist die Masse der Kernbausteine: Intuitiv würde man annehmen, dass ein Proton so viel wiegt wie seine drei Quarks zusammen. Doch die beiden Up-Quarks und das Down-Quark des Protons haben zusammen nur eine Ruheenergie und damit Masse von rund 27 Megaelektronenvolt (MeV/c2) – viel zu wenig. Denn das gesamte Proton hat eine Masse von rund 938 Megaelektronenvolt, dies entspricht rund 1,672 x 10−27 Kilogramm oder 1,007276466879 atomaren Einheiten. Damit ist das Proton viel schwerer als die kombinierten Massen seiner drei Quarks.
Aber warum? Woher kommt der Rest der Protonenmasse? Die Gluonen sind per Definition masselos und dürften demnach eigentlich keine Rolle spielen. Doch in der Welt der Quantenphysik sind Masse und Bewegungsenergie eng miteinander verkoppelt. Daher trägt auch die Bewegung der Gluonen und Quarks zur Gesamtenergie und damit der Masse des Protons bei. Doch sie allein reicht nicht aus, um die Masse des Protons und auch des Neutrons zu erklären.
Ein wimmelnder See aus kurzlebigen Quarkpaaren
An dieser Stelle kommt die Quantenfluktuation ins Spiel. Sie sorgt dafür, dass überall im Universum ständig virtuelle Paare aus Teilchen und ihren Antiteilchen auftauchen. Diese virtuellen Paare bleiben zwar nur Sekundenbruchteile erhalten, weil sich ihre beiden Komponenten gegenseitig auslöschen. Doch diese Paare und ihre Annihilation setzen Energie frei – und im Reich der Elementarteilchen sind Energie und Masse eng miteinander verknüpft.
Dieser Effekt – so vermuten Kernphysiker – erklärt die „überschüssige“ Masse von Proton und Neutron: Auch in den Kernbausteinen und dem Bereich der starken Wechselwirkung ploppen ständig Teilchenpaare aus dem Nichts auf – Paare aus jeweils einem Quark und seinem Antiquark. Dadurch enthält ein Nukleon neben den drei „festen“ Valenzquarks, die sein Verhalten bestimmen, auch einen ganzen „See“ aus wimmelnden, kurzlebigen Quark-Paaren – die Sea-Quarks oder Seequarks. Erst ihre Präsenz verleiht den Nukleonen ihre zusätzliche Masse.
Um das unübersichtliche Gewimmel in den Nuklonen ein wenig mehr zu ordnen, fasst man jeweils ein Valenzquark und den ihn umgebenden See aus Gluonen und Seequarks als sogenanntes Konstituentenquark zusammen. In einem Proton hat jedes dieser drei Konstituentenquarks aus hochdynamischen Teilchen und Teilchenpaaren etwa eine Masse von 300 Megaelektronenvolt – und das zusammen ergibt dann die Masse des Protons. Beim Neutron ist es genauso.
Welche Quarksorte sind die Seequarks?
Doch das Gewimmel aus Seequarks und ihre Einflüsse werfen noch viele Fragen auf. Denn diese flüchtigen Akteure beeinflussen wahrscheinlich nicht nur die Masse der Nukleonen, sondern auch ihren Spin und weitere Parameter. „Bisher haben wir nur ein unvollständiges Wissen darüber, wie sich diese Seequarks im Proton verhalten und wie sie die Eigenschaften des Kernbausteins prägen“, erklärt Reimer. „Die flüchtige Natur der Quark-Antiquark-Paare macht es schwer, sie zu erforschen.“
Eine der Fragen ist, welche der sechs bekannten Quarksorten als Seequarks auftauchen: Bilden nur leichte Up- und Downquarks und ihre jeweiligen Antiquarks die Seequarks – also die Quarks, die auch die Valenzquarks bilden? Oder kommen noch andere Quarksorten in diesen kurzlebigen Teilchenpaaren vor? „Schon seit dem Aufkommen der Quantenchromodynamik (QCD) wurde argumentiert, dass auch alle Arten der schweren Quarks intrinsisch in der Wellenfunktion des Protons vorkommen müssten“, erklärt Richard Ball von der University of Edinburgh.
Die Charm-Frage
Weitgehend einig sind sich Teilchenphysiker darüber, dass alle drei leichteren Quarks – Up, Down und Strange – als Seequarks in Proton und Neutron vorkommen müssten. Indizien dafür liefern unter anderem Protonenkollisionen in Teilchenbeschleunigern, bei denen Winkel, Energie und Art der dabei freiwerdenden Teilchen Hinweise auf solche Seequarks geben können. Anders sieht dies jedoch mit den drei schweren Quarksorten Charm, Bottom und Top aus.
Das Problem: Theoretisch ist die Masse jedes dieser Quarks größer als die Gesamtmasse des Protons. Daher ist seit gut 40 Jahren strittig, ob diese schweren Quarks und ihre Antiteilchen auch in den kurzlebigen Seequarks von Proton und Neutron auftauchen. „Diese Frage ist hochgradig kontrovers und Studien dazu kamen zu widersprüchlichen Aussagen“, so Ball und seine Kollegen. Sie haben daher die Daten aller Protonenkollisionen der letzten Jahre noch einmal zusammengetragen und auf Spuren kurzlebiger Charmquarks hin untersucht.
Im Sommer 2022 gelang es den Physikern tatsächlich, die umstrittenen Charm-Komponenten in den Seequarks von Protonen nachzuweisen. „Unsere Ergebnisse beantworten damit eine fundamentale Frage zur Nukleon-Struktur, die seit 40 Jahren von Teilchen- und Kernphysikern heiß debattiert wurde“, konstatieren Ball und sein Team. Im wimmelnden See der kurzlebigen Quark-Antiquark-Paare des Protons ist demnach auch das exotische, schwere Charm-Quark vertreten. Allerdings gehen weniger als ein Prozent des Proton-Gesamtimpulses auf dieses Teilchen zurück.
Viele Rätsel bleiben
Doch auch damit sind die Geheimnisse der Seequarks und des dynamischen Innenlebens der Nukleonen noch lange nicht entschlüsselt. Denn warum die verschiedenen Arten von Quarks und Antiquarks in diesen kurzlebigen Teilchenpaaren entstehen und welche Faktoren dies beeinflussen, ist ungeklärt. So scheinen beispielsweise im Proton mehr Anti-Down-Quarks zu entstehen als Anti-Up-Quarks, wie Experimente im Jahr 2021 nahelegten. Diese Asymmetrie widerspricht gängiger Theorie, nach der es gleich viele sein müssten.
Noch beginnen die Physiker erst damit, die Geheimnisse der Kernbausteine näher zu ergründen. Und wie für solche Anfänge üblich, gibt es reichlich überraschende und noch nicht erklärbare Beobachtungen und Entdeckungen. Die Reise zu den Grundlagen aller Materie bleibt daher weiter spannend.