Psychopathen gelten als unfähig, echte Gefühle zu empfinden. Erst das befähigt sie nach gängiger Ansicht dazu, ohne Rücksicht auf andere zu handeln und grausame Straftaten zu begehen. Doch was ist dran an der Gefühlskälte der Psychopathen?
„Der emotionale Boost fehlt“
Erste Einblicke dazu gewann der Psychologe Robert Hare vor gut 40 Jahren unter Schwerverbrechern in einem kanadischen Gefängnis. Auf der Suche nach dem, was diese Kriminellen antrieb, führte Hare eine Reihe von psychologischen Experimenten durch. In einem davon zeigte er seinen kriminellen Probanden Wörter mit emotionalem oder neutralem Inhalt, zwischen die Nonsens-Wörter eingestreut waren. Eine Elektrodenkappe zeichnete währenddessen die Hirnströme der Teilnehmer auf.
„Bei den emotionalen Wörtern schaffen es die meisten Menschen sehr schnell und präzise, zwischen echten Worten und Nonsens zu unterscheiden“, erklärt Hare. Bei neutralen Wörtern wie Tisch, Teppich oder Wand dauert es hingegen etwas länger. Doch bei den Insassen, die als potenziell psychopathisch eingestuft wurden, war dies anders. Für ihre Reaktion machte es keinen Unterschied, ob in der Wortliste gefühlsbesetzte Begriffe wie Leiche, Folter oder Schmerz auftauchten oder völlig neutrale Wörter. „Der emotionale Boost fehlte – das war erstaunlich“, beschreibt der Psychologe das Ergebnis später im Discovery Magazine.
Keine Angst, keine Trauer
Ähnliche Ergebnisse erbrachten Tests, in denen Forscher das unwillkürliche Augenblinzeln und Veränderungen der Hautleitfähigkeit als Reaktion auf Angst oder Abscheu erregende Videos untersuchten: Bei den meisten Psychopathen fallen diese Reaktionen schwächer aus oder fehlen ganz. Besonders ausgeprägt ist dies in Situationen, die normalerweise Angst auslösen. „Das passt zu der Annahme, dass Menschen mit Psychopathie relativ angstfrei sind“, konstatiert Stephen Benning von der University of Minnesota.
Tatsächlich scheinen subjektive Berichte dies zu stätigen. So schreibt die als psychopathisch diagnostizierte Athena Walker dazu: „Wir spüren Adrenalin, aber keine Angst.“ In einem Interview im Magazin „The Cut“ schildert es eine andere Psychopathin ähnlich: „Wir fühlen keine Angst. Wir verarbeiten die Emotion der Angst nicht. Und wir verstehen sie auch nicht.“ Ähnlich sei es mit anderen negativen Gefühlen wie Trauer oder dem von Schmerz ausgelösten Stress.
Dies gilt offenbar auch für das Gefühl der Liebe und der emotionalen Bindung: „Wir haben unsere eigene Version der Liebe, aber diese beinhaltet keine emotionale Beziehung“, erklärt Walker. „Unsere Liebe ist eher eine bewusste Entscheidung. “ Zwar könne sie sexuelle Anziehung verspüren, nicht aber Verliebtheit oder emotionale, aufopfernde Liebe. Ähnliches gelte für das Gefühl der Bindung und des Vertrauens. „Die meisten Menschen empfinden Vertrauen als ein Gefühl – ich habe das nie kennengelernt“, berichtet die anonyme Psychopathin im Magazin „The Cut“.
„Wie Hintergrundrauschen“
Bedeutet dies, dass Psychopathen keinerlei Gefühlregungen verspüren? Nicht unbedingt: „Menschen denken oft, dass wir gar keine Gefühle hätten, aber das stimmt nicht“, erklärt Walker. „Wir spüren sie nur viel schwächer.“ Auf einer zehnstufigen Skala würden die meisten Menschen Gefühle mit einer Intensität zwischen sieben und acht empfinden. Psychopathen dagegen erreichen ihrer Einschätzung nach nur die Stufe eins oder zwei.
„Die meisten emotionalen Reize gehen an uns vorbei wie Hintergrundrauschen“, sagt Walker. In dieses Bild passt, dass viele Psychopathen einen Drang nach stark stimulierenden Erlebnissen haben – sie sind gewissem Maße Adrenalin-„Junkies“. Viele haben keine Scheu selbst vor riskanten Unternehmungen und neigen zu einem promiskuitiven Lebensstil und „One-Night-Stands“.
Einen weiteren Aspekt der veränderten Gefühlswahrnehmung haben Arielle Baskin-Sommers von der University of Wisconsin vor einigen Jahren identifiziert. In einem Experiment mit Gefängnisinsassen untersuchten sie, welche Rolle die bewusste Aufmerksamkeit für das Angstempfinden von Psychopathen spielt. Dabei zeigte sich: Psychopathische Probanden zeigten nur dann unwillkürliche Anzeichen eines Schrecks, wenn sie sich zuvor bewusst auf den auslösenden Reiz konzentriert hatten. Waren sie dagegen auf etwas anderes fokussiert, blieb die Schreckreaktion aus. Nach Ansicht der Forscher spricht dies dafür, dass die Gefühle von Psychopathen nicht nur schwächer ausgeprägt sind – sie scheinen auch nicht automatisch ins Bewusstsein zu rücken.