Phänomene

Das Klavier ist königsblau

Im Reich der „Farbenlauscher“

Die Fuge F-Dur aus dem Wohltemperierten Klavier von Bach ist für Hélène Grimaud farbig. Sie löste die Wahrnehmung eines hellen, warmen Farbtons aus. © SXC / gemeinfrei

Für die Pianistin Hélène Grimaud ist C-Dur schwarz und D-Moll, die Tonart, die ihr am nächsten und liebsten ist, leuchtend blau. Die Musikerin hat sich diese Farben nicht ausgesucht, sondern empfindet sie unwillkürlich. Hört sie die entsprechenden Harmonien, erscheinen die Farbeindrücke vor ihrem inneren Auge: „Als ich elf war und das Präludium in F-Dur aus dem Wohltemperierten Klavier von Bach übte, nahm ich plötzlich etwas war, das sehr hell war, rot bis orange gefärbt, sehr warm und lebhaft: ein fast formloser Fleck, ähnlich dem, was man im Kontrollraum des Tonstudios sehen würde, wenn der Klang auf einen Bildschirm projiziert wird“, erzählt sie in einem Interview ihrer Plattenfirma Deutsche Grammophon.

CD-Test trennt echte von falschen Synästheten

Die von Grimaud jeweils gesehene Farbe, aber auch der von anderen Synästheten jeweils mitempfundene Sinneseindruck ist unveränderlich. Er ermöglicht damit auch die Abgrenzung von bloßen Assoziationen oder gefühlmäßigen Eindrücken gegenüber echter Synästhesie. Das zeigt ein spezifischer Test: Von einer CD werden dabei den Testpersonen verbale und non-verbale Klänge, wie beispielsweise das Spiel von verschiedenen Musikinstrumenten, Waldesrauschen, das Läuten einer Türklingel, das Miauen einer Katze oder Gesang in zufälliger Reihenfolge vorgespielt. Auf einer standardisierten Farbtafel sollen die Probanden dabei die durch die jeweiligen Klänge erzeugten Farben kennzeichnen.

Farbwahltafel aus einem Synästhesie-Test © gemeinfrei

Nach einem Monat wird dieser Test mit einer zweiten CD wiederholt, auf der zwar die gleichen Klangproben, aber in völlig anderer Reihenfolge enthalten sind. Ähnlich wie beim klassischen Test auf Graphem-Farb-Synästhesie bleiben die verknüpften Farben bei echten Musik-Synästheten auch nach Wochen, Monaten oder sogar Jahren unverändert. Ist das von einer Violine gespielte E für sie grün, wird es das auch bleiben, egal wie viel Zeit vergeht. Nicht-synästhetische Versuchsteilnehmer dagegen wählen beim zweiten Test in weniger als 50 Prozent der Aufgaben die gleiche Farbe. Ein verkürzter Musik-Farb-Synästhesie-Test findet sich auf der Website der BBC.

„Dur-Akkorde sind rot oder pink“

Mit Hilfe dieses Tests belegten Forscher auch, dass es zwei Unterformen musikalischer Synästhesie gibt: Die meisten Musik-Farbe-Synästheten nehmen bestimmte Tonhöhen, Zusammenklänge oder Melodiefolgen als Farben war. Der ungarische Komponist György Ligeti sah vor allem Harmonien in unterschiedlichen Farben: „Ich assoziiere Klänge mit Farben und Formen. Dur-Akkorde sind rot oder pink, Moll-Akkorde irgendwo zwischen grün und braun“, beschreibt er seine Wahrnehmung.

Einer der bekanntesten Musik-Synästheten war vermutlich Franz Liszt. Als er 1842 als Kapellmeister in Weimar begann, soll er das Orchester damit verblüfft haben, dass er ausrief: „O bitte, die Herrschaften, etwas blauer, bitte! Dieser Ton erfordert es.“ Oder ein andermal: „Dies ist ein tiefes Violett, bitte. Verlassen sie sich darauf. Nicht so rosa!“ Nach der ersten Überraschung gewöhnten sich die Musiker daran, dass ihr Orchesterleiter offenbar Farben sah, wo für sie nur Töne existierten.

Für den Musik-Farb-Synästhet Julian Asher ist Klaviermusik blau © SXC / Podbregar

Ein Cello wie geschmolzener Honig

Für die zweite Unterform der Musik-Synästheten erweckt nicht die Tonhöhe eines Klanges, sondern das Timbre, die Klangfarbe, den spezifischen visuellen Eindruck: „Ich höre eine Note von einem in der Band und sie hat eine Farbe. Dann höre ich die gleiche Note von jemand anderem gespielt und sie hat eine andere Farbe“, beschrieb Jazzlegende Duke Ellington seine Synästhesie. „Wenn Harry Carney spielt, ist D dunkelblaues Sackleinen. Wenn Jonny Hodges spielt, wird es zu hellblauem Satin.“

Ähnliches erzählt auch der Musik-Farb-Synästhet Julian Asher, der schon als Kind Klangfarben auch visuell erlebte: „Violinen sind das volle, leuchtende Burgunderrot von gutem Wein, während Cellos das sanfte Goldgelb von geschmolzenem Honig haben. Das Klavier ist königsblau, während das Miauen meiner Katze ein Blaugrün, abgetönt durch metallisches Flieder ist. Die Farben sind schimmernde Flächen gegen einen schwarzen Hintergrund.“

Aber wie ist dieses faszinierende Farbenspiel zu erklären? Was ist bei den Synästheten anders als bei anderen?

  1. zurück
  2. |
  3. 1
  4. |
  5. 2
  6. |
  7. 3
  8. |
  9. 4
  10. |
  11. 5
  12. |
  13. 6
  14. |
  15. 7
  16. |
  17. 8
  18. |
  19. 9
  20. |
  21. weiter

Nadja Podbregar
Stand: 06.05.2011

Keine Meldungen mehr verpassen – mit unserem wöchentlichen Newsletter.
Teilen:

In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Synästhesie
Das Geheimnis der „Farbenhörer“ und „Wörterschmecker“

Wechselgeld schmeckt nach Käse
Wenn die Sinne überlappen

Das Klavier ist königsblau
Im Reich der „Farbenlauscher“

Das Geheimnis des roten Dreiecks
Was passiert bei Synästheten im Gehirn?

Familiensache
Synästhesie und Vererbung

Zufallsfund im Mäusehirn
Ein Schmerz-Gen entpuppt sich als Synästhesie-Auslöser

Tief ist dunkel, hoch ist hell?
Das Rätsel der Unterschiede und Gemeinsamkeiten

Die vollkommene Wahrnehmung
Synästhetische Verschmelzung als Mode

Zwischen Kuriosität und Irrenhaus
Reaktionen auf die Synästhesie heute

Diaschauen zum Thema

News zum Thema

Schmerz-Gen erzeugt Synästhesie
Erstmals genetischen Faktor für gekoppelte Sinneneindrücke identifiziert

Synästhetiker sind Gedächtnis-Genies
Neue Studie bestätigt bisherige Vermutungen

Synästheten haben mehr graue Zellen
Hirnforscher weisen Gehirnveränderungen an zwei Stellen nach

Dossiers zum Thema