Andere Forscher wie der Neurophysiologe Josef Rauschecker vom Georgetown University Medical Center in Washington halten eine umgebaute Hörrinde zwar für eine notwendige Bedingung von Tinnitus, aber längst nicht für eine ausreichende. „Immerhin entwickeln nur 20 bis 40 Prozent der Betroffenen mit lärmbedingtem Hörverlust das nervtötende Klingeln“, sagt er. „Ein Modell meiner Arbeitsgruppe schreibt daher dem limbischen System eine ebenfalls entscheidende Rolle zu.“ Das limbische System ist unter anderem für die Verarbeitung von Emotionen verantwortlich.
Rauschecker und seinen Kollegen zufolge ist insbesondere der mediale präfrontale Cortex – den einige Wissenschaftler zum erweiterten limbischen System zählen –, normalerweise in der Lage, die Tinnitus-Signale aus der Hörrinde zu unterdrücken. Doch wie die Forscher mit Hilfe bildgebender Verfahren zeigen konnten, ist bei Tinnitus-Patienten das Volumen dieser Hirnregion vermindert. Vereinfacht gesagt funktioniert offensichtlich der Schalter für die Rauschunterdrückung im limbischen System nicht richtig.
Mehrere Netzwerke beteiligt
Der Denkansatz des Teams um Rauschecker vermag einige offene Fragen zu beantworten. „Ich denke aber nicht, dass er sich dafür eignet, alle verschiedenen Formen von Tinnitus zu erklären“, sagt Berthold Langguth. Er und seine Kollegen vermuten, dass mehrere Netzwerke im Gehirn zum Klingeln im Ohr beitragen. „Mit unserem Modell wollen wir der klinischen Erfahrung Rechnung tragen, dass Tinnitus äußerst vielgestaltig ist.“ Bei den verschiedenen „Typen“ von Tinnitus-Patienten seien jeweils unterschiedliche Netzwerke im Gehirn gleichzeitig aktiv.
So nehmen Betroffene die Übererregung des auditorischen Systems erst bewusst wahr, wenn diese mit Aktivitäten in Aufmerksamkeitsnetzwerken im frontalen und parietalen Bereich verbunden sei. Ein anderes neuronales System – unter anderem das anteriore Cingulum – kodiert laut Langguth die Bedeutung des Tinnitussignals. „Dieses Netzwerk ist möglicherweise auch die Ursache, warum sich Tinnitus-Patienten darin unterscheiden, ob sie das Ohrgeräusch ausblenden können oder nicht“, sagt er. „Falls es mit aktiviert wird, ist die subjektive Bedeutsamkeit des Tinnitus hoch und die Ablenkung davon schwierig oder gar unmöglich.“
Das limbische System, zu dem etwa die Amygdala zählt, sorge dann für die emotional negative Färbung. „Zudem sprechen wir dem Gedächtnisnetzwerk um den Hippocampus eine entscheidende Rolle zu – vor allem beim chronischen Tinnitus.“ Die Arbeitsgruppe um Langguth nimmt eine Art Tinnitus-Gedächtnis an. Da es im Frequenzbereich der zerstörten Haarzellen keinen neuen Input gebe, könne die Gedächtnisspur von dem Störgeräusch nicht mehr überschrieben werden. „So erklären wir uns die Hartnäckigkeit der Tinnitus-Wahrnehmung.“
Dr. Christian Wolf/ dasgehirn.info – ein Projekt der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung, der Neurowissenschaftlichen Gesellschaft e. V. in Zusammenarbeit mit dem ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologi
Stand: 10.08.2012