In der Fremde die eigene Identität kennenlernen und das Fremde nach Europa zu tragen – das trägt wesentlich zum europäischen Selbstverständnis bei, heute noch und schon im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Mit dem europäischen Selbstverständnis beschäftigten sich auch viele neulateinische Autoren, verstanden allerdings Unterschiedliches darunter.
Konzepte der Einheit
Und sie entwarfen Utopien. „Bestimmte Konzepte halten sich längerfristig, das von Europa als christliche Einheit etwa. Aber selbst das ist problematisch, das Christentum ist in sich gespalten, es gibt die Ost- und die Westkirche, Glaubenskriege, Muslime in Spanien und Albanien, und Juden kommen da überhaupt nicht vor“, sagt die Latinistin Isabella Walser-Bürgler.
„Auch politische Konzepte sind spannend: Es gab zum Beispiel mehrere Entwürfe für eine europäische Universalmonarchie, einen Länderverbund unter der Herrschaft eines der großen Fürstenhäuser, etwa Habsburg, Frankreich, Schweden“, erklärt die Forscherin. „Oder die Idee eines pluralen Staatensystems, genau ausbalanciert nach Größe und Bevölkerungszahl, damit kein Staat mehr zu sagen hat als die anderen
Wer gehört zu Europa?
Alles das wurde bekanntlich nie umgesetzt, in der Literatur wurde aber diskutiert und ausgeführt, warum diese Konzepte besser seien als der Status Quo, erklärt Walser-Bürgler: „Diese Konzepte waren auch keineswegs exotisch, das ist breit diskutiert worden und taucht in jedem Genre auf. Was die Arbeit natürlich auch erschwert, man muss sich alle Genres ansehen, auch die ‚schöne’ Literatur.“
Diskutiert wurde auch über den Namen „Europa“ an sich: Die mythologische Europafigur war keine Europäerin, außerdem keine Christin – sollte Europa nicht besser nach dem Sohn Noahs „Japhetien“ heißen? Denn nach der „Völkertafel“ des Alten Testaments wurden die Söhne Noahs nach der Sintflut zu den Stammvätern der großen Volksgruppen der Erde. Noch im Mittelalter war daher die Vorstellung von Japhet als Gründervater Europas eine durchaus gängige Vorstellung.
Was und wer zu Europa gehört, unterschied sich auch je nach Autor: „Sozusagen der ‚Kernbestand’ Europas, Frankreich, das heutige Deutschland, Italien, das ist immer dabei. In Aufzählungen – und das wissen wir aus Korrespondenzen und Reiseberichten – kommen dann aber schon andere Gebiete mal vor, mal nicht, zum Beispiel die skandinavischen Länder“, sagt Isabella Walser-Bürgler.
Russland raus, Großbritannien als Insel
Nicht zu Europa zählte für die Gelehrten des Mittelalters und der frühen Neuzeit zum Beispiel Russland: „Dass Russland nicht dabei ist, hat mehrere Gründe, aber eine Rolle spielt das Große Schisma von 1054: Die West- und die Ostkirche trennten sich, damit gab es keine gemeinsame Sprache. Die Ostkirche hat Griechisch oder Altkirchenslawisch als Verkehrssprache, die Westkirche Latein, damit fiel Russland aus dem lateinisch definierten Europa hinaus“, sagt Martin Korenjak.
Und Großbritannien? Dazu hieß es bereits in der Antike bei Virgil: „Toto divisos orbe Britannos.“ Die Britannier, um eine ganze Welt vom Rest Europas getrennt. Some things never change.
Quelle: Universität Innsbruck