Schon vor über hundert Jahren, als der nördliche und der südliche Inyltschek noch vereint waren, gab es am Zusammenfluss der beiden Eisströme einen Gletschersee. Entdeckt hat ihn Gottfried Merzbacher, ein deutscher Naturforscher. Er bereiste im Jahr 1903 den Tien-Shan und suchte einen Aufstieg zum Khan Tengri, dem nördlichsten Siebentausender der Erde. Ihm zu Ehren wurde der See von russischen Wissenschaftlern später Merzbacher-See getauft.
2000 Kubikmeter pro Sekunde
Diesen gibt es noch heute – genau an derselben Stelle. Und wie vermutlich auch zu Merzbachers Zeiten, verschwindet der See regelmäßig und entsteht später wieder aufs Neue. In den letzten Jahren tat er dies allerdings mit so großer Regelmäßigkeit, dass die Wissenschaftler vor einem Rätsel stehen. Jedes Jahr Ende Juli, Anfang August bricht der Merzbacher-See aus. Mit 2.000 Kubikmetern Wasser und Schlamm pro Sekunde bricht sich der See dann seine Bahn. Es scheint kaum vorstellbar, doch das Wasser sucht sich einen Weg, der eigentlich durch den riesigen Gletscher versperrt ist. Es rauscht unter den Eismassen talabwärts, sucht sich im und unter dem von Gletscherspalten zerklüfteten Eispanzer einen Weg nach unten, bis es schließlich am Gletschertor herausgepresst wird und den hier beginnenden Inyltschek-Fluss spürbar ansteigen lässt.
Solche Gletschersee-Ausbrüche gibt es weltweit immer wieder. Verglichen beispielsweise mit ähnlichen Naturereignissen in Butan verlaufen die Ausbrüche am Inyltschek meistens geradezu harmlos. Weil die Region unterhalb des Eisriesen kaum besiedelt ist, sind die Verwüstungen hier nicht so verheerend, wie im Himalaya. Dort kamen bei vergleichbaren Katastrophen zum Teil schon Dutzende Menschen zu Tode.
Freie Bahn für Forscher
Doch warum verschwindet der Merzbacher-See so regelmäßig? Auch die Wissenschaftler vom GFZ Potsdam, dem ZAIAG und von der Universität Wien wollen dieser Frage nachgehen. Deshalb sind sie froh, dass der See zur Zeit der diesjährigen Expedition im August 2009 schon verschwunden ist. Denn so können sie zu Fuß auch dorthin, wo noch wenige Wochen zuvor nichts als Wasser war.
Übrig geblieben sind nur riesige, haushohe Eisblöcke, die kurz zuvor noch auf dem See schwammen und jetzt wild verstreut auf dem schlammigen Boden, dem ehemaligen Seegrund herumliegen.
Der Gletscher kalbt
Die Eisblöcke stammen vom südlichen Inyltschek, der hier beständig in das Seitental des nördlichen Inyltschek hineinkalbt. An der Talmündung liegt die Eisflanke des südlichen Stroms völlig frei, keine Moräne aus Schutt hält den riesigen Gletscher in seiner Bahn. Beständig schiebt der Gletscher deshalb Eis in das Seitental hinein. Solange der See besteht, landen die Eisblöcke im Wasser, ist er verschwunden, fallen sie direkt in den Schlamm.
Hypothesen, warum der See immer pünktlich im Hochsommer verschwindet, gibt es einige, doch die sind bisher nicht bewiesen, so der Wiener Geologe Hermann Häusler: „Es braucht Wasserdruck, es funktioniert nur, wenn eine gewisse Wassersäule vorhanden ist, die ist sicher 20, 30 Meter hoch. Hier steigt einfach der Druck, der hydraulische Druck, und wenn der offensichtlich ein bestimmtes Maß überschreitet, dann presst sich dieses gewaltige See-Volumen durch die Spalten und Höhlen des abdämmenden Gletschers und gurgelt dann da diese Kilometer hinunter und bricht dann aus.“
Ulrich Wetzel vom GFZ vermutet dagegen, „dass der See ab einer bestimmten Größe Eisteile des Gletschers aufschwimmen lässt und sich so den Abfluss erzwingt.“
Auch Zufluss unklar
Nicht nur die Ausbrüche sind rätselhaft, auch wie sich der See stets so schnell wieder füllen kann, ist unklar. Die Wissenschaftler vermuten, dass dafür der nördliche Inyltschek und seine Abflüsse eine bedeutende Rolle spielen. Von dort fließt das ganze Jahr über Wasser auf den südlichen Gletscher zu und wird vom Eisstrom aufgestaut. Und scheinbar gibt es neben dem Hauptabfluss im Tal des nördlichen Inyltschek noch zahlreiche kleinere Flüsse und Rinnsale. Auch diese Fragen sind noch nicht erforscht.
Denn ein Handicap hatten alle Wissenschaftler, die in den letzten Jahren hier gearbeitet haben. Nur wenige Wochen im Jahr ist das Gebiet zugänglich, die Zeit für aufwendige Messungen bleibt meist nicht.
Auch für eine genaue Bilanz des Gletschersee-Zuflusses sind deshalb noch weitere Untersuchungen nötig. Mit ihren geophysikalischen Vermessungen des Untergrunds haben die Wiener Wissenschaftler auch dafür eine Grundlage geschaffen.
Stand: 30.10.2009