Auch in den Tagen und Wochen nach dem Seveso-Unglück gab die Icmesa – ein Tochterunternehmen eines Tochterunternehmens des Pharmakonzerns Hoffmann-La Roche – ein denkbar schlechtes Bild ab. So wurde die Bevölkerung in der Region zunächst nicht gewarnt, obwohl wohl schnell klar war, dass beim so genannten „thermischen Durchgehen“ giftiges Dioxin in die Umgebung gelangt war. Und auch die Produktion in der Firma ging zunächst ohne größere Einschränkungen weiter.
Die Strategie, die dahinter steckte, enthüllte der ehemalige Pressesprecher von Roche, Hans Fehr, in seiner Autobiografie „Eindrücke“ auf eindrucksvolle Art und Weise: „Dr. Hartmann [Vizedirektor der Roche], ganz Oberst an der Front, stürmte den Ort der Handlung, gefolgt vom Chefchemiker von Givaudan, Dr. Sambeth. ‚Gut, dass Sie da sind. Also erstens: Die Sache wird im engsten Kreise der Icmesa gehalten; Givaudan und Roche werden nicht erwähnt. Zweitens: Dass es bei der Herstellung von Hexachlorophen passiert ist, wird […] nicht erwähnt. Drittens: Dass Dioxin gebildet wurde, wird nicht erwähnt. Alles klar?‘“ All das passierte am 15. Juli und damit fünf Tage nach dem verheerenden Störfall.
Wenn Stahlfässer verschwinden…
Nicht gerade mit Ruhm bekleckert haben sich alle Beteiligten – egal ob Icmesa, Roche oder andere Firmen – auch bei den Dekontaminationsarbeiten vor Ort und speziell beim Abtransport und der Entsorgung der giftigen Abfälle. So gingen beispielsweise 41 Metallfässer mit Material aus dem am schlimmsten betroffenen Gebäude B von Icmesa auf dem Transport durch Frankreich verloren. Es folgte eine monatelange länderübergreifende Suche nach dem Giftmüll, ehe die Fässer in einem Hinterhof im kleinen französischen Ort Anguilcourt-le-Sart wieder auftauchten. Nach einigem Hin und Her wurden sie schließlich nach Basel gebracht und dort 1985 in einer speziellen Giftmüll-Verbrennungsanlage vernichtet – jedenfalls höchstwahrscheinlich.
Es gibt aber auch ganz andere Theorien. So hält sich den Einwohnern von Anguilcourt-le-Sart laut einem Bericht der NZZ am Sonntag hartnäckig die Vermutung, dass die 41 Fässer nie verbrannt worden sind, sondern unter einer Startbahn des Flughafens Basel-Mülhausen vergraben liegen. Und der deutsche Physiker Ekkehard Sieker vermutet aufgrund eigener Recherchen, dass der Giftmüll am Ende auf der Deponie Schönberg in Mecklenburg-Vorpommern gelandet ist. Wasserdichte Beweise dafür konnte er allerdings nicht vorlegen.
Agent Orange als geheimes Ziel?
Nicht endgültig geklärt ist zudem, ob das Dioxin in der Icmesa-Fabrik tatsächlich wie offiziell verkündet versehentlich erzeugt worden ist oder womöglich doch mit Vorsatz. Letzteres klingt erst einmal abenteuerlich, doch wenn man weiß, dass Trichlorphenol und Dioxin auch bei der Produktion von Agent Orange eine große Rolle spielen, sieht die Sache schon ganz anders aus. Dieses wirkungsvolle Entlaubungsmittel wurde im Vietnam-Krieg von den USA massiv eingesetzt und verursacht beim Menschen schwere Gesundheitsschäden. Nachdem die Agent Orange Produktion in Amerika verboten war, könnten Militärs – so die Vermutung – durchaus ein Interesse gehabt haben, sich die Waffe aus der Küche der Chlorchemie im Notfall anderswo zu besorgen.
Dazu Jörg Sambeth, der Verantwortliche für Icmesa bei der Roche-Tochter Givaudan, in der „taz“: „Es gab keine Fabrik mehr in der Welt, die überhaupt den Grundstoff Trichlorphenol herstellte – außer Icmesa. Und die Konzernführung hat sich für diese Fabrik immer ganz speziell interessiert. Laut meiner Vermutung kaufte man das Werk, um aus dem Grundstoff Agent Orange schnell herzustellen – wenn nötig. Ohne technisch irgendetwas verändern zu müssen. Man brauchte nur die Dampftemperatur rund um den Reaktor erhöhen. Auch wenn ich fast davon überzeugt bin, dass es nie gemacht wurde.“
Dieter Lohmann
Stand: 12.11.2010