Dann, kurz hinter den Shetland-Inseln, wartet schließlich der Kontinentalabhang, das Ende des europäischen Kontinents. In Europa erstrecken sich diese Kontinentalränder auf über 15.000 Kilometern durch den Atlantischen Ozean und große Nebenmeere wie das Mittelmeer und umfassen etwa ein Drittel der Fläche des Kontinents. Schwindelerregend, zerklüftet und von schroff en Canyons durchzogen, stürzt der Meeresboden hier fast senkrecht in die Tiefe.
Selbst ein erfahrener Alpinist bräuchte an dieser Stelle eine Kletterausrüstung, um weiter vorwärts zu kommen. Den Boden bedecken auch hier Blauschlick und feine Sedimente, die immer wieder unvermutet ins Rutschen geraten. Lawinen aus Geröll oder das Abbrechen ganzer Hänge sind keine Seltenheit – ein Problem für so manches Tiefseekabel. Die gewaltigen Bergstürze sorgen dafür, dass die Leitungen hin und wieder reißen und ersetzt werden müssen. Eine der weltweit größten Hangrutschungen fand vor einigen tausend Jahren im Storegga-Canyon am norwegischen Kontinentalrand statt. Instabile Gashydrate im Boden brachten Schutt und Geröll vom hundertfachen Volumen des Bodensees ins Rutschen und lösten damals einen gewaltigen Tsunami aus.
Rutschbahnen in die Tiefe
Aber nicht nur Lawinen, auch Canyons gibt es hier, an den Kontinentalrändern sind Schluchten von mehr als 1.000 Meter Tiefe keine Seltenheit. Ebenso wie ihre Ebenbilder an Land gibt es sie in zahlreichen Varianten, mal schmal, mal breit, mal schnurgerade, mal mäandrierend. Als eine Art „Rutschbahn“ transportieren sie Sedimente vom Schelf über den Kontinentalabhang in die Tiefsee.
Einige dieser riesigen Unterwasser-Canyons entstanden vermutlich als ganz normale Flusstäler zu Zeiten niedrigerer Meeresspiegel. So setzt sich beispielsweise das Flussbett der Themse direkt unterhalb der Wasseroberfläche als submariner Canyon in die Tiefe fort. Kleine Erdbeben oder spontane Rutschungen wirbeln in dieser Meeresregion die obersten Bodenschichten auf und lassen diese dann immer wieder wie eine Lawine in die Tiefe gleiten. Dadurch gräbt sich im Laufe der Zeit ein Canyon in den Meeresgrund.
Die in den Canyons bergab stürzenden Sedimente können dabei Geschwindigkeiten von bis zu 100 Stundenkilometern erreichen. Wie eine Art großer Staubsauger reißen sie alle Hindernisse und vor allem totes organisches Material mit sich in die Tiefe. Diese so genannten Turbiditströme graben im wahrsten Sinne des Wortes den Kontinentalhang ab und sind eine der Erklärungen, warum sich die Canyons im Laufe der Zeit weiter vertiefen und nicht, wie früher angenommen, durch die hohe Sedimentfracht von selbst „versanden“.
Leben in Kälte und Dämmerlicht
Und noch eine Besonderheit gibt es an den Kontinentalabhängen: Denn in den Nischen und Erhebungen des Schelfrandes lebt eine ganz eigene Organismenwelt. Vor einigen Jahren entdeckten Wissenschaftler an den Kontinentalrändern des kalten Nordatlantiks sowie der Barents-See Riff strukturen, die bislang nur aus den warmen und lichtdurchfluteten Flachwassermeeren der subtropischtropischen Klimazone bekannt waren: Speziell an Kälte und wenig Licht angepasst, hatten Kaltwasserkorallen diesen Lebensraum erobert. Vor allem die Steinkoralle Lophelia pertusa lebt in Tiefen von mehr als 1.000 Metern und bildet dort große Kolonien. Diese Riff e sind auch eine wichtige Kinderstube für viele Fischarten des Atlantiks.
Dieter Lohmann
Stand: 15.06.2012