„TN“ ist eindeutig blind: Der ältere Mann hat 2003 zwei schwere Schlaganfälle erlitten, die seine Sehrinde in beiden Gehirnhälften zerstörten – und damit den Ort, an dem unser bewusstes Sehen stattfindet. Denn erst hier, im visuellen Cortex werden die von der Netzhaut der Augen eintreffenden Signale verarbeitet und in Bilder umgesetzt. Ohne die Sehrinde ist ein Mensch daher blind, statt der Welt um sich herum sieht er nur schwarz.
Auch bei TN ist dies so, wie Sehtests belegen. Selbst wenn Ärzte ihm große Objekte direkt vor die Augen halten, kann er nicht sagen, ob dort etwas ist, geschweige denn was. Ein ganz normaler Blinder also – auch seiner eigenen Ansicht nach. Denn auch für TN ist klar, dass er nichts sieht. Kein Wunder, ist doch Blindheit gemeinhin keine sonderlich subtile oder schwer festzustellende Behinderung.
Navigation mit Hindernissen
Aber irgendetwas an TNs Verhalten machte stutzig: Obwohl er sich nur mit Blindenstock vorwärts tastete, schien er manchmal erstaunlich „sehend“ zu reagieren: Er griff ungewöhnlich zielsicher nach manchen Objekten und umging Hindernisse. Nur Zufall? Beatrice de Gelder von der Universität Tilburg in den Niederlanden und ihre Kollegen wollten es genauer wissen und stellten TN 2008 auf die Probe:
Sie stellten in einem Korridor lauter Hindernisse auf, Pappkartons, ein Stativ, einen Mülleimer, und baten TN, diesen ohne seinen Stock entlangzugehen – ohne ihm zu verraten, dass es Hindernisse gab. Normalerweise würde ein Blinder dabei ständig mit den Objekten in seinem Weg kollidieren, denn er sieht sie ja nicht. Doch nicht so TN: Er bewegte sich scheinbar mühelos um die Hindernisse herum, presste sich sogar seitlich an die Wand, um eine besonders enge Stelle zu passieren. Er verhielt sich genau wie ein Sehender.
Blind und trotzdem sehend?
Aber wie war das möglich? War TN vielleicht doch nicht blind? Oder hatte er die Hindernisse auf andere Weise erfühlt? Die Forscher befragten ihren Probanden eingehend nach seinen Eindrücken. Doch TN verstand die ganze Aufregung nicht: Er war der festen Überzeugung, er wäre einfach ganz normal gelaufen, von irgendwelchen Hindernissen wusste er nichts. Auch eine Orientierung nach dem Gehör schlossen die Forscher aus, auch wenn einige Blinde durchaus mit Hilfe von an Wänden oder Objekten reflektierten Geräuschen navigieren können.
Für de Gelder und ihre Kollegen kam nur eine Erklärung in Frage: TN war ein Blindseher – ein Mensch, der zwar über keinerlei bewusstes Sehen mehr verfügt, aber der dennoch unbewusst auf bestimmte Sehreize reagieren kann. Was aber hat es mit diesem Phänomen auf sich?
Nadja Podbregar
Stand: 29.08.2014