Ein seltsames Phänomen ist seit Jahrzehnten bekannt: Schwule Männer haben häufig ältere Brüder. Im Vergleich zu ihren heterosexuellen Geschlechtsgenossen sind sie seltener Einzelkinder und auch seltener der erstgeborene Sohn. Schon in den 1950er Jahren machte diese Auffälligkeit Forscher stutzig.
Je mehr große Brüder…
Wie ist dieser seltsame Effekt zu erklären? Um der Sache auf die Spur zu kommen, haben Mediziner seither genauer untersucht, was es mit der Geschwisterfolge und der Homosexualität auf sich hat. In mehreren Studien mit homosexuellen Männern und Frauen prüften sie, an welcher Position der Geschwisterfolge diese standen. Für die bisher größte Studie dieser Art werteten Ray Blanchard von der University of Toronto und sein Team im Jahr 2011 14 Einzelstudien mit zusammen mehr als 7.000 Teilnehmern aus.
Und tatsächlich: Die schon zuvor beobachtete Auffälligkeit bestätigte sich. Schwule Männer sind in ihrer Familie signifikant häufiger die jüngeren Brüder. Je mehr ältere Brüder ein Mann hat, desto wahrscheinlicher ist es demnach, dass er homosexuell ist. Mit jedem älteren Bruder erhöht sich die Chance um rund 33 Prozent, wie Blanchard ausrechnete.
Verantwortlich für 28 Prozent
Geht man von einem normalen Schwulenanteil unter Männern von rund zwei Prozent aus, sind unter Männern mit zwei älteren auf 3,5 Prozent schwul, Männer mit vier Brüdern sogar zu sechs Prozent. Für ältere Schwestern dagegen gilt dies nicht – sie haben keinerlei Einfluss auf die sexuelle Orientierung ihrer kleinen Brüder. Auch bei lesbischen Frauen haben Forscher bisher keine Hinweise auf einen Effekt der Geschwisterfolge finden können.
„Dieser Große-Bruder-Effekt ist einer der konsistentesten und am besten belegten Funde auf dem Gebiet der männlichen sexuellen Orientierung „, sagt der US-Psychologe Michael Bailey. „Der Effekt ist nicht nur groß, er ist auch fast mit Sicherheit kausal.“ Insgesamt könnten rund 28 Prozent aller schwulen Männer ihre Homosexualität diesem Effekt verdanken, so die Schätzung der Forscher.
Doch psychosozial?
Aber wie? Auf welche Weise kann die Geschwisterfolge die sexuelle Orientierung beeinflussen? Spielen hier womöglich doch psychosoziale Faktoren eine Rolle? Eine Möglichkeit wäre, dass die Interaktion mit den älteren Brüdern auf irgendeine Weise die Hinwendung zum eigenen Geschlecht fördert. Eine andere könnte sein, dass Mütter mit vielen Jungs ihre Nesthäkchen eher wie ein Mädchen behandeln und daher deren Verhalten prägen.
Allerdings haben sich trotz jahrzehntelanger Suche für keine dieser psychosozialen Hypothesen Belege gefunden. Stattdessen zeigen Studien, dass dieser Bruder-Effekt nur bei biologischen Brüdern auftritt, nicht aber bei adoptierten. „Der entscheidende Faktor scheint die Zahl der älteren Brüder zu sein, die von der gleichen Mutter geboren wurden – egal ob man mit ihnen zusammen aufgewachsen ist oder nicht“, sagt Bailey.
Immunreaktion im Mutterleib
Was aber ist dann die Erklärung für den Großen-Bruder-Effekt? Blanchards Idee: Möglicherweise spielt eine Immunreaktion der Mutter für diesen Effekt eine Rolle. Wie er erklärt, produzieren männliche Föten ein geschlechtsspezifisches Protein, das sogenannte H-Y-Antigen. Weil diese Antigene im Körper von Frauen normalerweise nicht präsent sind, empfindet das mütterliche Immunsystem sie als fremd – und löst eine entsprechende Immunreaktion aus.
Eine solche Abwehrreaktion auf das eigene Ungeborene ist weniger exotisch als es zunächst klingt. Denn sie steckt auch hinter der Rhesus-Inkompatibilität – einer für Mutter und Kind bedrohlichen Schwangerschaftskomplikation. Sie tritt bei Schwangeren mit Rhesus-Faktor negativ auf, wenn ihre Kinder Rhesus Faktor positiv haben. Das Immunsystem der Mutter produziert dann Antikörper gegen das Blut des Kindes – und dies mit jeder Schwangerschaft mehr.
Männliches Antigen als Auslöser?
Beim Großen-Bruder-Effekt könnte es ähnlich sein, wenn auch mit subtileren Folgen. „Das H-Y-Antigen spielt fast mit Sicherheit eine Rolle für die sexuelle Differenzierung des Gehirns, denn seine Rezeptoren sind auf der Oberfläche der Neuronen präsent“, erklären die Psychobiologen Glenn Wilson und Qazi Rahman.
Fangen die mütterlichen Antikörper die H-Y-Antigene weg und verhindern so das Andocken, dann könnte dies die Entwicklung von Hirnzentren verändern, die für das spätere Sexualverhalten wichtig sind. Bei Mäusen haben Forscher bereits erste Indizien für solche Effekte nachgewiesen. Doch beim Menschen stehen entsprechende Studien noch aus.
Aber selbst wenn die Mechanismen hinter dem Großer-Bruder-Effekt aufgeklärt werden, bleiben mehrere Fragen offen: Warum werden nicht alle jüngeren Brüder schwul? Und was ist mit der großen Mehrheit der Homosexuellen, die ihre sexuelle Orientierung nicht mit dem Bruder-Effekt erklären können?
Nadja Podbregar
Stand: 29.06.2018