„Dieser Große-Bruder-Effekt ist einer der konsistentesten und am besten belegten Funde auf dem Gebiet der männlichen sexuellen Orientierung „, sagt der US-Psychologe Michael Bailey. „Der Effekt ist nicht nur groß, er ist auch fast mit Sicherheit kausal.“ Insgesamt könnten rund 28 Prozent aller schwulen Männer ihre Homosexualität diesem Effekt verdanken, so die Schätzung der Forscher.

Hat der Bruder-Effekt psychosoziale oder biologische Wurzeln? © dimafoto/ iStock.com
Doch psychosozial?
Aber wie? Auf welche Weise kann die Geschwisterfolge die sexuelle Orientierung beeinflussen? Spielen hier womöglich doch psychosoziale Faktoren eine Rolle? Eine Möglichkeit wäre, dass die Interaktion mit den älteren Brüdern auf irgendeine Weise die Hinwendung zum eigenen Geschlecht fördert. Eine andere könnte sein, dass Mütter mit vielen Jungs ihre Nesthäkchen eher wie ein Mädchen behandeln und daher deren Verhalten prägen.
Allerdings haben sich trotz jahrzehntelanger Suche für keine dieser psychosozialen Hypothesen Belege gefunden. Stattdessen zeigen Studien, dass dieser Bruder-Effekt nur bei biologischen Brüdern auftritt, nicht aber bei adoptierten. „Der entscheidende Faktor scheint die Zahl der älteren Brüder zu sein, die von der gleichen Mutter geboren wurden – egal ob man mit ihnen zusammen aufgewachsen ist oder nicht“, sagt Bailey.
Immunreaktion im Mutterleib
Was aber ist dann die Erklärung für den Großen-Bruder-Effekt? Blanchards Idee: Möglicherweise spielt eine Immunreaktion der Mutter für diesen Effekt eine Rolle. Wie er erklärt, produzieren männliche Föten ein geschlechtsspezifisches Protein, das sogenannte H-Y-Antigen. Weil diese Antigene im Körper von Frauen normalerweise nicht präsent sind, empfindet das mütterliche Immunsystem sie als fremd – und löst eine entsprechende Immunreaktion aus.

Eine Immunreaktion im Mutterleib könnte für den Bruder-Effekt verantwortlich sein. © Janula/iStock.com
Eine solche Abwehrreaktion auf das eigene Ungeborene ist weniger exotisch als es zunächst klingt. Denn sie steckt auch hinter der Rhesus-Inkompatibilität – einer für Mutter und Kind bedrohlichen Schwangerschaftskomplikation. Sie tritt bei Schwangeren mit Rhesus-Faktor negativ auf, wenn ihre Kinder Rhesus Faktor positiv haben. Das Immunsystem der Mutter produziert dann Antikörper gegen das Blut des Kindes – und dies mit jeder Schwangerschaft mehr.
Männliches Antigen als Auslöser?
Beim Großen-Bruder-Effekt könnte es ähnlich sein, wenn auch mit subtileren Folgen. „Das H-Y-Antigen spielt fast mit Sicherheit eine Rolle für die sexuelle Differenzierung des Gehirns, denn seine Rezeptoren sind auf der Oberfläche der Neuronen präsent“, erklären die Psychobiologen Glenn Wilson und Qazi Rahman.
Fangen die mütterlichen Antikörper die H-Y-Antigene weg und verhindern so das Andocken, dann könnte dies die Entwicklung von Hirnzentren verändern, die für das spätere Sexualverhalten wichtig sind. Bei Mäusen haben Forscher bereits erste Indizien für solche Effekte nachgewiesen. Doch beim Menschen stehen entsprechende Studien noch aus.
Aber selbst wenn die Mechanismen hinter dem Großer-Bruder-Effekt aufgeklärt werden, bleiben mehrere Fragen offen: Warum werden nicht alle jüngeren Brüder schwul? Und was ist mit der großen Mehrheit der Homosexuellen, die ihre sexuelle Orientierung nicht mit dem Bruder-Effekt erklären können?
Nadja Podbregar
Stand: 29.06.2018
29. Juni 2018