Geologie/physische Geographie

Der Frühmensch aus dem Sand

Die ältesten menschlichen Knochen Mitteleuropas

Ein Tagelöhner namens Daniel Hartmann sorgt am 21. Oktober 1907 für eine wissenschaftliche Sensation – allerdings ohne, dass er sich darüber so recht bewusst ist. Nur mit einer Schaufel bewaffnet geht er in einer Sandgrube in der Gemeinde Mauer bei Heidelberg seiner Arbeit nach: Business as usual. Doch schon bald wird der schwitzende Mann aus seinem alltäglichen Einerlei gerissen. Denn in mehr als 24 Meter Tiefe stößt er in der Grube Grafenrain auf einen harten Gegenstand, der sich schnell als gut erhaltenes Skelettteil entpuppt.

Unterkiefer von Mauer (Nachbildung) © Gerbil / GFDL

Überreste einer neuen Menschenart

Hartmann ist kein Fachmann, vermutet aber sofort, dass es sich dabei um einen menschlichen Unterkiefer handelt. Ziemlich groß zwar und ziemlich ungewöhnlich geformt, aber trotzdem. Dummerweise hat Hartmann seinen Fund erst entdeckt, nachdem er ihn beim Sandschaufeln in zwei Teile zerbrochen hat. Dennoch wird eiligst ein Experte für die Stammesgeschichte des Menschen, Otto Schoetensack vom Geologischen Institut der Universität Heidelberg, herbei gerufen.

Der Paläoanthropologe hat seit dem Fund eines Waldelefanten-Schädels 20 Jahre zuvor, ein besonderes Auge auf die Sandgrube geworfen und überwacht jede neue Entdeckung penibel. Er nimmt deshalb auch die neue Fundstelle und natürlich den Unterkiefer ausführlich in Augenschein und untersucht ihn zusammen mit einem Breslauer Kollegen gründlich. Dann ist für ihn der Fall klar. Er hat die Überreste einer neuen Menschenart vor sich, die er Homo heidelbergensis nennt.

Ziemlich groß und kein Kinn

„Es [das Fossil] zeigt eine Kombination von Merkmalen, wie sie bisher weder an einer recenten noch fossilen menschlichen Mandibula [Unterkiefer] angetroffen worden ist. Selbst dem Fachmann wäre es nicht zu verargen, wenn er sie nur zögernd als menschliche anerkennen würde: Fehlt ihr doch dasjenige Merkmal gänzlich, welches als specifisch menschlich gilt, nämlich ein äußerer Vorsprung der Kinnregion, und findet sich doch dieser Mangel vereinigt mit äußerst befremdlichen Dimensionen des Unterkieferkörpers (…).“, schreibt Schoetensack in einem Artikel zu „seinem“ Fund.

Aber ist der Unterkiefer tatsächlich menschlich oder stammt er doch von einem Tier? Auch darauf hat der Forscher eine Antwort parat: „Der absolut sichere Beweis dafür, daß wir es mit einem menschlichen Teile zu tun haben, liegt lediglich in der Beschaffenheit des Gebisses. Die vollständig erhaltenen Zähne tragen den Stempel ‚Mensch‘ zur Evidenz: Die Canini [Eckzähne] zeigen keine Spur einer stärkeren Ausprägung den anderen Zahngruppen gegenüber. Diesen ist insgesamt die gemäßigte und harmonische Ausbildung eigen, wie sie die recente Menschheit besitzt.“

600.000 Jahre alt?

Mittlerweile haben Altersdatierungen enthüllt, wie alt und wie bedeutend der Unterkiefer in den Schotter- und Sandablagerungen des Neckars bei Mauer in etwa ist. „In diesen Sanden wurden Tausende von Knochen gefunden, darunter auch der etwa 600.000 Jahre alte Unterkiefer des Homo heidelbergensis, der bis heute älteste menschliche Knochen Mitteleuropas“, berichten Joachim Eberle und seine Mitautoren in „Deutschlands Süden“.

Die Geowissenschaftler weisen noch einmal ausdrücklich auf die große Bedeutung von durch fließendes Wasser verursachten Ablagerungen wie die Sande in Mauer hin. Danach gehören diese zu den wichtigsten Geoarchiven überhaupt. Denn unter anderem mithilfe der in ihnen gefundenen Fossilien können Forscher beispielsweise mehr über die wechselnden Klimabedingungen etwa während des Pleistozäns erfahren. Dieser Zeitabschnitt in der Erdgeschichte begann vor knapp 2,6 Millionen Jahren und endete vor rund 11.700 Jahren.

Der Unterkiefer von Mauer gibt den Wissenschaftlern nichtsdestotrotz noch immer einige Rätsel auf. Nicht endgültig geklärt ist unter anderem bis heute die Stellung des Homo heidelbergensis im Stammbaum des Menschen. Viele Forscher halten ihn nicht für eine eigene Spezies, sondern lediglich für eine lokale Unterart des Homo erectus. Letzterer war der erste Angehörige der Gattung Homo, der sich weit über Afrika hinaus verbreitete und dabei auch Asien und Europa eroberte.

Vogelherdhöhle mit Figur eines Pferdes © D. Krug / Abteilung Ältere Urgeschichte und Quartärökologie, Eberhard Karls Universität Tübingen

Die ältesten Kunstwerke der Menschheit

Mindestens ebenso berühmt wie die Sande von Mauer sind in Sachen Evolution des Menschen die Vogelherdhöhlen im Lonetal bei Heidenheim. Sie dienten über einen langen Zeitraum als Rastplatz und Unterschlupf für Eiszeit-Jäger. „Hier und in weiteren Höhlen der Umgebung wurden die bislang ältesten Kunstwerke der Menschheit gefunden. Die zeitgenössische Darstellung eines eiszeitlichen Pferdes aus Elfenbein stammt aus der Kulturstufe des Aurignacien [die oft mit der Ankunft anatomisch moderner Menschen in Europa in Zusammenhang gebracht wird] und ist damit etwa 35.000 Jahre alt“, so Eberle und seine Kollegen.

Bei den eher kleinen und unscheinbaren Vogelherdhöhlen handelt es sich um Karstphänomene. Sie sind im Laufe der Erdgeschichte in einer Region entstanden, die vor knapp 200 Millionen Jahren noch von einem tropischen Ozean bedeckt war, der Tethys.

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Stand: 24.09.2010

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Deutschlands Süden
Eine Reise durch einzigartige Landschaften und Jahrmillionen Erdgeschichte

Kosmischer Doppelschlag vor 15 Millionen Jahren
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Tropisches Paradies im Ölschiefer
Die Grube Messel

Ein Gletscher am Rhein
Jede Menge Eis - und seine Folgen

Des Teufels Werkzeug
Dengelstein - ein Findling im Allgäu

Flussdiebstahl an der Donau
Der „Kampf“ um die Wasserscheide zwischen Donau- und Rheinsystem

Wutach-Tricks und Karstquellen
Phänomen Wasser

Der Frühmensch aus dem Sand
Die ältesten menschlichen Knochen Mitteleuropas

„Heiße“ Zeiten in Süddeutschland
Vulkanismus als Landschaftsbildner

Von Gletschern und schwimmenden Inseln
Die Arberseen im Bayerischen Wald

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