Herbst 1911. Der junge dänische Physiker Niels Bohr hat gerade seine Doktorarbeit zur Elektronentheorie der Metalle abgeschlossen und ist auf dem Weg zu seinem großen Idol: Er darf im Rahmen eines Forschungsaufenthalts im Labor des Nobelpreisträgers und „Elektronenpapstes“ Joseph John Thomson mitarbeiten. Bereits in seiner Diplomarbeit hat sich Bohr mit der Arbeit von Thomson auseinandergesetzt – und platzt nun vor neuen Ideen und Verbesserungsvorschlägen. „Voll wildem, dummem Mut“, beschreibt er seinen Gemütszustand später.
Besuch in Manchester
Damit allerdings kommt er beim etablierten Nobelpreisträger nicht gerade gut an. Dieser nimmt den mit Akzent sprechenden Jungforscher nicht wirklich für voll und ist zudem viel zu sehr damit beschäftigt, sein Rosinenkuchen-Modell und dessen Konsequenzen weiter zu entwickeln. Bohr bleibt dennoch für rund ein halbes Jahr in Cambridge, folgt Vorlesungen und Vorträgen von Thomson, aber auch dem Mathematiker Joseph Larmor.
Im Februar 1912 dann bietet sich ihm die nächste große Chance: Er kann im Labor von Ernest Rutherford in Manchester mitarbeiten – kurze Zeit nachdem dieser sein bahnbrechendes Goldfolien-Experiment veröffentlicht hat. Bohr beschreibt seine Eindruck des Forschers so: „Ein echt erstklassiger Mann und extrem fähig, in vielerlei Hinsicht noch fähiger als Thomson, wenn auch vielleicht nicht so begabt“, so die fast schon vorwitzige Einschätzung des Jungphysikers. Und auch bei Rutherford tut Bohr zunächst das, was ihm besonders liegt: Er beschäftigt sich mit den Modellen seines Chefs und analysiert sie auf seine eigene Weise.
Deutlich getrennt: Chemie und Radioaktivität
Dabei erkennt Bohr bereits, was selbst Rutherford zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst ist: Das Kern-Hülle-Modell liefert auch das Handwerkszeug, um radioaktive und chemische Reaktionen klar voneinander abzugrenzen. Denn alles, das die Hülle und die darin befindlichen Elektronen beeinflusst und verändert, ist seiner Definition nach Chemie.
„Zur ersten Klasse von Atommerkmalen gehören die meisten physikalischen und chemischen Eigenschaften von Substanzen, wie ihre Farbe oder chemische Reaktivität“, erklärt Bohr 1922 in seiner Nobelpreis-Rede. „Diese Eigenschaften beruhen auf dem Elektronensystem und die Art und Weise, mit der sich seine Bewegung unter dem Einfluss verschiedener äußerlicher Handlunge verändert.“ Die Reaktionen aber, die vom Atomkern ausgehen, sind Bohrs Ansicht nach Kernphysik. „In den radioaktiven Prozessen begegnen wir einer Art Explosion des Atomkerns, bei der er positive oder negative Partikel, die sogenannten Alpha- und Beta-Teilchen, mit großen Geschwindigkeiten ausstößt“, erklärt Bohr.
Viele offene Fragen
Bohr belässt es dabei aber nicht, er hinterfragt Rutherfords Modell auch kritisch und sieht durchaus einige Lücken. Einen Aspekt chemischer Reaktionen kann das Rutherford-Modell beispielsweise nicht erklären: Warum bilden manche Elemente wie das Natrium fast immer einfach positiv geladenen Ionen, andere dagegen wie Aluminium sogar dreifach positive?
Und warum weigern sich manche Elemente schlichtweg, überhaupt positiv zu werden und nehmen stattdessen negative Ladungen an, wie beispielsweise das Chlor wenn es in Form von Kochsalz – Natriumchlorid – gelöst wird? Steckt der Hinzugewinn oder der Verlust von Elektronen dahinter, müsste dies ja bedeuten, dass einige Elektronen leichter entfernt werden können als andere. Rutherfords nicht weiter unterteilte Atomhülle liefert hier keine Erklärung dafür.
Und noch etwas bleibt beim Rutherford-Modell ungeklärt: Warum bleiben die Elektronen in der Hülle, statt in den Kern hineinzustürzen? Eigentlich müssten die kreisenden Teilchen bei ihrer Bewegung ständig an Energie verlieren und damit auch an Geschwindigkeit. Denn nach gängiger Theorie der klassischen Elektrodynamik verliert eine bewegte Ladung ständig Energie, weil sie elektromagnetische Strahlung aussendet. Langsamer werdend, müssten die Elektronen dadurch schließlich von der positiven Ladung angezogen werden und in den Kern fallen. Doch ganz offensichtlich geschieht genau dies nicht. Die Elektronen scheinen völlig ungebremst um den Kern zu kreisen. Aber warum?
Nadja Podbregar
Stand: 21.06.2013