Der Adler sitzt auf einem Vierzylinder-Motorblock direkt neben einem verrosteten Moskwitsch. Eigentlich kein Platz für eine stolze Kreatur, die als König der Lüfte gilt. Doch trotz des Schrotts um ihn herum ist der Vogel ein selten schönes Exemplar: Klauen und Schnabelansatz sind kräftig gelb– ein Indiz dafür, dass er gutes Futter bekommt, das Gefieder goldbraun, wie es sich für einen Steinadler gehört. Die zwölf Schwanz- oder Stoßfedern sind gleichmäßig und nicht zerrupft. Und obwohl er eine kleine Lederhaube auf dem Kopf trägt, die ihm die Sicht nimmt, ist er aufmerksam und plustert ärgerlich die Nackenfedern auf, wenn sich ihm ein Fremder nähert. Fortfliegen kann er nicht, mit einem Lederriemen um die Füße ist er am Motorblock festgebunden.
„Ein guter Adler,“ ist Schünnes überzeugt, „mit ihm lohnt sich die Jagd.“ Am Adler liegt es also nicht, dass der Alte heute zu Hause sitzt und nicht zwischen den kahlen Steppenbergen und schroffen Canyons unterwegs ist. Doch Schünnes selbst geht es nicht so gut – obwohl er noch ohne Probleme auf sein Pferd kommt. Schünnes ist 86. Da hat auch einer wie er die wildesten Jagden seines Lebens bereits hinter sich.
Schünnes ist einer der letzten Adlermenschen Zentralasiens, ein echter Berkutschi – einer, der die Jagd mit dem Adler als persönliches Handwerk versteht. Sein ganzes Leben lang hat der weißbärtige Alte hier gelebt, am Dreiländereck zwischen Kirgistan, Kasachstan und China. Ob er Kasache oder Kirgise ist, weiß er selbst nicht. Grenzen haben ihm nie etwas bedeutet. Bis heute kennt er Pfade in den Bergen, auf denen er zu Pferd in ein paar Stunden in China oder Kirgistan ist – ohne je einem Grenzposten zu begegnen.
Zu jeder Zeit hat Schünnes zwei oder drei Adler besessen, Steinadler, um genau zu sein. Seine Vorfahren haben die Jagd mit diesen großen Greifvögeln erfunden und perfektioniert. In den Weiten der zentralasiatischen Steppen und den Bergen des Tien Shan und des Altai nutzten die Nomaden schon vor ein paar Jahrhunderten die besonderen Fähigkeiten der Steinadler, um Hasen, Zieselmäuse, aber auch Antilopen, Füchse und sogar Wölfe zu fangen.
Schünnes selbst ist mit Adlern aufgewachsen, sein Vater hat ihm das Wissen vererbt. Etwa 30 bis 40 Jahre alt kann ein Steinadler werden. Doch um einen Jagd-Adler aus ihm zu machen, muss er schon als Jungvogel an den Menschen gewöhnt werden. Bei den Berkutschi üblich ist der Raub von jungen Adlern direkt aus dem Horst. „Werden die Jungen von den Eltern aufgezogen, sind sie gut entwickelt und kräftig,“ so Schünnes. Beliebt seien auch dreijährige Adler, so genannte „Tastuleks“, die den ersten Gefiederwechsel hinter sich haben und schon selbst jagen können.
Das Abrichten der Vögel erfordert Geduld. Tagelang sitzen die Adler auf dem „Yrgak“, einer Schaukel aus einem dicken Ast, halten dabei stets das Gleichgewicht. Wenn sie müde sind, bekommen sie Pferde-, Rind- oder Schaffleisch. Und streicheln muss der Berkutschi den Adler, damit der Vertrauen gewinnt. Schließlich darf der Vogel an einer Leine fliegen und mit einem Balg die Jagd üben. Die wahre Kunst der Berkutschi wird sichtbar, wenn der Vogel nach dem ersten Freiflug tatsächlich auf die Faust zurückkehrt.
Wer heute erzähle, ein Adler müsse gebrochen werden, um mit ihm zu jagen, verbreite Unsinn, so Schünnes. Viel Pflege und Zuwendung seien notwendig. „Die Adler haben früher wie Familienmitglieder gelebt.“ Er selbst habe in jungen Jahren noch in einer Jurte gewohnt – zusammen mit den Adlern, erzählt er.
Heute lebt Schünnes in einem halb verfallenen Blechhaus, seine Frau ist vor ein paar Jahren gestorben. Eine der Töchter kümmert sich noch um ihn. Doch von den Enkeln interessiert sich keiner für die Jagdkunst des Alten, es zieht sie in die Stadt, wo sie nicht in einem Dorf aus Blechhütten wohnen, mit unbefestigten Straßen, die im Sommer die Häuser in Staubwolken hüllen und bei Regen zu Schlammbächen werden.
Dass die Adler heute Touristen-Attraktionen sind, wissen Kasachen und Kirgisen gleichermaßen. Ein Foto mit einem Adler auf der Hand, zur Erinnerung, kann dann für Ausländer schon mal 20 Euro kosten. Auch eine Jagd zu Pferd ist möglich, wenn der Gast nur ausreichend zahlt. Dass die Adler oft in schlechtem Zustand sind, die Federn kupiert oder stumpf, sieht ein Laie kaum. Schünnes schüttelt über die modernen Berkutschi nur den Kopf. „Mit uns Alten sterben die Traditionen der Adlerjagd aus,“ ist er überzeugt.
Wann Schünnes seine nächste Jagd plant? Er weiß es noch nicht. Vielleicht versucht er es am Ende des Winters noch einmal, wenn das Wetter etwas milder ist. Vielleicht lässt er diesen Adler aber auch bald frei. Denn das gehört ebenso zum Berkutschi: Wenn er fünf oder sechs Jahre mit einem Adler gejagt hat, entlässt er ihn wieder in die Natur.
Stand: 15.12.2006