Wer meint, der Nordpol sei permanent von einer meterdicken Eisschicht bedeckt, der wurde diesen Sommer jäh in die Realität zurückgeholt: Am geographischen Nordpol, bei 90 Grad nördlicher Breite, war von mächtigem Packeis keine Spur. Stattdessen erwartete die Besucher nur eine äußerst dünne Eisschicht und Wasser, so weit man blicken konnte. Sind das die ersten Anzeichen für das Abschmelzen der Polkappen und den drohenden Klimakollaps?
Die Polarforscher beschwichtigen, dass dem nicht so sei. Das Meereis über dem Nordpolarmeer ist vielfältigen Veränderungen unterworfen. Es entsteht vor den Küsten Sibiriens und driftet dann langsam über die Polkappe hinweg Richtung Grönland. Durch diese ständigen Bewegungen ist der Eispanzer eine dynamische Erscheinung. Strömungen und Winde halten ihn in Bewegung und lassen ihn an vielen Stellen immer wieder aufbrechen. So entstehen Rinnen und Kanäle, teilweise auch größere freie Wasserflächen, sogenannte Polynias, in der Eisdecke. Es ist daher völlig normal, wenn inmitten des Packeises plötzlich Rinnen und Risse klaffen.
Da die Eisbedeckung des Arktischen Ozeans jahreszeitlichen Schwankungen unterworfen ist, nimmt die Eisfläche auf ganz natürliche Art zu und ab. Allerdings wollen Polarforscher in letzter Zeit einen Trend erkannt haben, nach dem die arktische Meereisschicht neueren Auswertungen zufolge schrumpft, sowohl in ihrer Dicke als auch in der Fläche. Die Sonarauswertungen von U-Booten ergeben einen Rückgang von 40 Prozent in der Dicke der Eisschicht, und Geophysiker, die Satellitendaten aus 20 Jahren ausgewertet hatten, errechneten eine vierzehnprozentige Abnahme der mehrjährigen Eisfläche.
Über die Bedeutung dieser Beobachtungen sind sich die Wissenschaftler uneinig. Manche sehen darin tatsächlich den Beginn einer globalen Erwärmung, die nicht mehr aufzuhalten ist. Bislang habe sich die Erde um etwa ein Grad aufgeheizt, und dieser Trend setze sich fort. Andere warnen vor voreiligen Schlüssen. Es sei zwar richtig, dass die Eisdecke kleiner geworden ist, genauso gut könne sie aber auch jederzeit wieder anwachsen. Die momentane Situation am Nordpol könnte auch durch ein ganz normales Klimaphänomen verursacht worden sein.
Über dem Nordpolargebiet schwankt der atmosphärische Luftdruck in extremem Ausmaß, er steigt stark an, um daraufhin wieder drastisch abzunehmen. Dieser periodische Wechsel der Luftdruckverhältnisse ist den Klimaforschern unter dem Begriff Arktische Oszillation bekannt. Auf diese Weise gelangt mal mehr, mal weniger Warmluft in die Arktis. Möglicherweise befinden wir uns gerade wieder in einer Phase, die für die arktische Region höhere Temperaturen und weniger Eisbildung zur Folge hat. Nur wie lange dieses Phänomen anhält, vermag niemand genau zu sagen. Wenn sich Luftdruckschwankungen und Windverhältnisse wieder auf das alte Muster einpendeln würden, wäre es möglich, dass auch das Meereis wieder seine ursprüngliche Dicke erreicht.
Stand: 27.12.2000