Etwa zehn Minuten per Shuttle vom CERN-Campus entfernt liegt der ALICE-Detektor – kurz für „A Large Ion Collider Experiment“. Er ist ein Sonderling unter den vier großen Experimenten am LHC. Denn sein Hauptinteresse gilt nicht den Protonenkollisionen, sondern Ereignissen, die nur während eines Monats im Jahr stattfinden: Vier Wochen lang, meist zur Vorweihnachtszeit, wird der gigantische Teilchenbeschleuniger dann statt mit Protonen mit Blei-Ionen gefüttert. „10.000 Ionen pro Sekunde schießen dann durch das Strahlrohr“, erklärt uns Johannes Wessels, Physiker von der Universität Münster und stellvertretender Sprecher der ALICE-Kollaboration.
Die ultimative Ursuppe
Diese schweren „Brocken“ prallen dann im Herzen des Detektors aufeinander und erzeugen dabei so hohe Energien, dass für kurze Zeit Bedingungen ähnlich wie kurz nach dem Urknall herrschen. Bei Temperaturen hunderttausend Mal höher als im Kern der Sonne und hohem Druck trennen sich nicht nur Protonen und Neutronen voneinander, sondern selbst diese zerlegen sich in ihre Bausteine, in Quarks und Gluonen. Letztere sind die Kraftteilchen, die die starke Kernkraft vermitteln. Normalerweise ist der Zusammenhalt zwischen Quarks und Gluonen extrem stark, so stark, dass man es nicht schafft, Quarks zu vereinzeln.
Wenige Millionstel Sekunden nach dem Urknall war die Energiedichte jedoch so extrem hoch, dass es die atomaren Bausteine, wie wir sie heute kennen, noch nicht gab. Stattdessen bewegten sich Quarks und Gluonen frei in einem Plasma – quasi der ultimativen kosmischen Ursuppe. Eine solche Ursuppe entsteht auch im ALICE-Detektor – wenn auch nur für Sekundenbruchteile. Doch das reicht aus, um anhand der dabei freiwerdenden Energie- und Teilchensignaturen auf einige der Eigenschaften dieses Ur-Plasmas zu schließen.
Superflüssig einerseits, abbremsend andererseits
Wie Wessels erklärt, ist das Quark-Gluonen-Plasma beispielsweise superfluid: Es verhält sich wie eine Flüssigkeit, die keinerlei innere Reibung besitzt. Etwas ähnliches beobachtet man auch bei extrem stark abgekühltem Helium, wie es beispielsweise auch zur Kühlung der supraleitenden Magnete im LHC benutzt wird. Dieses kriecht im superfluidem Zustand selbst Wände hoch und überwindet Hindernisse – weil die Kapillarkräfte der Oberflächen dann stärker sind als die Schwerkraft.
Andererseits aber setzt das Plasma anderen schweren Partikeln durchaus Widerstand entgegen. So entstanden bei den Kollisionen im ALICE-Detektor kurzzeitig auch charm-Quarks, eine kurzlebige und schwere Variante dieser Materiebausteine. Diese schießen durch das Quark-Gluonen-Plasma hindurch und werden dabei abgebremst, wie die Experimente zeigten. „Dieser Materietyp hat daher eine enorme Kapazität, selbst schwere Teilchen zu stoppen“, erklärt CERN-Physiker Jürgen Schukraft.
Wenn der LHC auf höhere Energien aufgerüstet wird, hat das auch Vorteile für die Erforschung der kosmischen Ursuppe – und damit der Phase nach dem Urknall, aus der alle Materie hervorging. Denn noch weiß man kaum etwas darüber. Selbst die bisherigen Daten von ALICE kratzen gerade einmal an der Oberfläche dieser geheimnisvollen Zustandsform. „Durch die höheren Energien wird der Quark-Gluonen-Plasma etwas länger anhalten“, sagt Wessels. Das bietet den Physikern die Chance, mehr Daten über diesen Zustand zu sammeln. Um dafür gerüstet zu sein, erhält der Detektor ein neues Kalorimeter, einen Subdetektor aus transparenten Blei-Wolframat-Kristallen, in dem sich Teilchenjets durch winzige Lichtblitze verraten.
Nadja Podbregar
Stand: 02.08.2013